Das Blut der Gleichen und der Geruch der Verräter

Die albanische Frage und die Zukunft Mazedoniens.

Wer will noch ernsthaft daran zweifeln, dass auf dem Gebiet der serbischen Provinz Kosovo und Methohija («Kosmet») ein neuer albanischer Staat entsteht? Auch wenn es die politische Korrektheit westlichen PolitikerInnen verbietet, nach den Balkankriegen der neunziger Jahre die Veränderung von Staatsgrenzen gutzuheissen, die Weichen sind gestellt: Der Kosovo wurde aus dem jugoslawischen Währungsraum ausgekoppelt, ein eigenes Mobiltelefonnetz wird aufgebaut, das Kosovo-Schutzkorps ist faktisch rein albanisch und die nicht-albanische Bevölkerung ist so gefährdet, dass ihre Abwanderung anhält. Seit August hat die Mordrate mit dreissig Opfern pro Woche wieder Vorkriegsstärke erreicht. Die ausländischen Schutztruppen können oder wollen das mit ihrer auf Selbstschutz bedachten Doktrin nicht verhindern. Damit entsteht nun allmählich ein rein-albanischer Kosovo, und der formal nach wie vor behauptete jugoslawisch-serbische Anspruch auf das Gebiet wird zusehends unrealistischer.

Dieser Staatsbildungsprozess, der in Kooperation und manchmal in Konfrontation mit der Uno-Verwaltung abläuft, wird von einer intensiven Diskussion unter albanischen Intellektuellen begleitet. Dabei geht es nicht nur um die Zukunft des Kosovo, sondern grundsätzlich um die Frage, was albanische Identität und Tradition sei, wie AlbanerInnen zusammenleben sollten und wodurch sie sich von andern Völkern unterscheiden. Noch frisch in Erinnerung ist die heftige Auseinandersetzung zwischen Veton Surroi, einem bekannten Intellektuellen, und der Nachrichtenagentur «Kosovapress», die dem westlicherseits lange hofierten UCK-Führer Hacem Thaci nahe steht. Surroi hatte gegen die Verfolgung der serbischen Minderheit im Kosovo protestiert und die damit verbundene Haltung als «faschistisch» gebrandmarkt. In einem furiosen Gegenangriff wurde Surroi in der «Kosovapress» als Verräter am eigenen Volk bezeichnet, als «Gospodin» Surroi (die serbische Anrede für «Herr»), der trotz albanischen Blutes «slawisch rieche». Selbst der albanische Ministerpräsident Pandeli Majko erlaubte sich kurz vor seinem Rücktritt im Spätherbst einen Vorschlag zur albanischen Identitätspolitik: «Alle Albaner sollten die gleiche Geschichte lernen, denn wir sind Teil derselben Geschichte. Jetzt ist es Zeit für uns Albaner, auf dem Balkan Geschichte zu machen.» Nur welche?

Die Beantwortung der albanischen Frage ist aber nicht nur für die Zukunft des Kosovo wichtig. Entscheidend wird sie für das einzige multiethnische Staatsgebilde, dem es 1991 auf friedlichem Weg gelang, sich aus der jugoslawischen Erbmasse zu lösen: Mazedonien. Der Staat ist zwar bisher mit seinen offiziell 23 Prozent albanischen StaatsbürgerInnen (bei insgesamt 2,2 Millionen EinwohnerInnen) besser zurechtgekommen als die Nachbarn mit ihren Minderheiten. Aber trotz verfassungsmässiger Gleichstellung, Regierungsbeteiligung und Quotenregelungen in Ausbildung und Verwaltung klafft ein tiefer Graben zwischen «Staatsbürgern» und «Staatsvolk». Es gibt kein Gespräch mit slawischen MazedonierInnen, in dem nicht früher oder später die hohe albanische Geburtenrate und die Angst vor Separation und Zerfall unter grossalbanischen Vorzeichen beschworen wird. Diese Spannungen sind nicht neu. In seiner jungen Geschichte ist die mazedonische Staatsgewalt schon öfters harsch mit albanischen Aktivisten zusammengestossen. Das ist vielleicht weniger erstaunlich als das Geschick, das bisher die politischen Eliten beider Seiten in der Deeskalation und Vertuschung dieser Konflikte bewiesen haben.

Der «natürliche» Wunsch

Ich sitze im Büro von Fadil Sulejmani, dem Rektor der albanischen Universität in Tetovo. Sie wird von den Behörden nicht anerkannt und als Teil einer albanischen Parallelstruktur argwöhnisch beobachtet. Die Räumlichkeiten befinden sich in Privathäusern, kleinen unverputzten Backsteinbauten in einem Aussenquartier der albanisch dominierten Stadt. Neben dem Schreibtisch hängt ein grosses Bild der Reiterstatue von Fürst Skanderbeg, dem albanischen Nationalhelden, der 1443 eine Revolte gegen die Osmanen anführte. «Man bekämpft mich», sagt der weisshaarige Mann mit den durchdringenden blauen Augen. «Selbst die albanische Presse bekämpft mich, aber ich werde vom Volk unterstützt.» Seit 1995, der Gründung der Universität und den anschliessenden Zusammenstössen von Studenten mit der Polizei sass Sulejmani zehn Monate im Gefängnis. Von den gewählten albanischen Politikern erwartet er nichts mehr. «Sie sind nur noch auf ihren persönlichen Vorteil bedacht und lassen sich als Feigenblatt der Mazedonier missbrauchen.» Sulejmani, dessen grossalbanische Ideen auch vielen Albanern zu weit gehen, ist in einer schwierigen Lage. Seitdem die Koalitionsregierung aus mazedonischen und albanischen Parteien unter internationalem Zuspruch die Errichtung einer albanischsprachigen Universität nicht mehr prinzipiell ablehnt, ist sein Lebenswerk doppelt gefährdet. Für einen Scharfmacher wie ihn und seinen Lehrstoff wäre in einer offiziellen Universität kein Platz. Und die albanischen Studierenden würden wohl sehr schnell dorthin abwandern, wo staatliche Studienzertifikate erworben werden können. Sulejmani vertritt ein völkisches Konzept der Nation, das von der Mehrzahl der Intellektuellen und Politiker im Balkan geteilt wird. Es beruht auf «Blut» und Sprache. «Das Problem für den Frieden im Balkan liegt nicht mehr im befreiten Kosovo, sondern in Mazedonien. Es sind nur politische Interessen, die diesen künstlichen Staat zusammenhalten. Hier leben Bulgaren, Albaner und Serben, alles Völker mit eigener Sprache und Tradition, das Volk der so genannten Mazedonier gibt es wissenschaftlich betrachtet gar nicht.» Die rationale Lösung der albanischen Frage sei deshalb die Aufteilung des Landes unter seinen Völkern. Weil die Grossmächte dagegen seien, bleibe als realpolitische Lösung der Kampf für die kulturellen und nationalen Rechte der Albaner und als Fernziel ein friedlich erobertes Grossalbanien.

Die jugoslawische Erfahrung

Was macht Albaner zu Albanern, was ist der Kern ihrer Identität? Das Ehepaar Dauti gerät über die Frage in eine längere Diskussion. Wir sitzen in den schmucken roten Sesseln des Büros von «Pro Helvetia» in Skopje und trinken Kaffee. Azam Dauti ist Leiter des Verlagshauses «Shkupi» (albanisch für Skopje), seine Frau Florija ist Übersetzerin. «Es sind wohl vor allem die Geschichte und die Geschichten, welche die albanischen AutorInnen bis zum heutigen Tag immer wieder erzählen: von Krieg und Vertreibung. Die Unterdrückung und die Sprache haben uns die gemeinsame Identität gegeben.» Daraus entstehe aber noch keineswegs ein gemeinsamer politischer Wille, fügt Azam hinzu. Im Frühjahr 1997 habe er mit Interesse die Gründung der Bewegung «Eine Nation – ein Wille» von albanischen Studierenden aus dem Kosovo, Mazedonien und Albanien verfolgt. «Vergeblich hat man in Tirana versucht, sich auf gemeinsame Leitlinien zu einigen. Die Albaner sind zu wenig kompromissbereit.» Dauti, der Sulejmani als begeisternden Lehrer und Doktorvater schätzt, stimmt mit dessen politischen Grundlinien überein. Im Ton ist er gemässigter. «Grossalbanien ist der natürliche Wunsch aller Albaner. Aber so, wie die Dinge liegen, ist Mazedonien mein Vaterland. Allerdings muss es aufhören, uns als Bürger zweiter Klasse zu behandeln. Wir müssen die Verfassung ändern und einen binationalen Staat der Mazedonier und Albaner schaffen.» In der Tat beruht die mazedonische Verfassung auf ethnischen Prämissen: Im Wortlaut der Präambel ist Mazedonien «der Nationalstaat des mazedonischen Volkes, der seinen Minderheiten Gleichberechtigung garantiert». Die Mazedonier reagieren gereizt auf die Forderung nach einem bi- oder multinationalen Staat und verweisen auf zahlreiche Fördermassnahmen, die zugunsten der Minderheiten unternommen würden. Der Politikwissenschaftler und Parlamentarier Nano Ruzin erklärt die ablehnende Haltung mit den jugoslawischen Erfahrungen. «Der jugoslawische Staat war ein multinationaler Staat, und jeder Schritt Richtung Föderalisierung und Aufwertung ethnischer Minderheiten hat sich – im Nachhinein – als Schritt Richtung Krieg und Sezession erwiesen.»

Kooperation der Verschiedenen

In einem modernen Eckhaus, bei dem der Partisanen-Boulevard und die Rooseveltstrasse zusammenstossen, ist das von dem US-amerikanischen Finanzspekulanten George Soros gestiftete «Open Society Institute Macedonia» untergebracht. Ich werde von Refet Abazi und Dritëro Kasapi empfangen. Abazi ist Koordinator der Kulturprogramme und einer der bekanntesten Schauspieler im Land. Kasapi ist Regisseur. Hier im hellen Büro mit den modernen Computern herrscht eine lockere Atmosphäre. Die beiden sprechen fliessend Englisch mit amerikanischem Akzent. Selbst der Humor scheint von angelsächsischer Selbstironie geprägt. Man kennt den Westen, man kennt westliche Intellektuelle und hat sogar – anders als meine bisherigen Gesprächspartner – Kontakte zur mazedonischen Intelligenz. Urban und aufgeklärt geht Kasapi die schwierigen Fragen an. «Nationen in einem modernen Sinn gibt es noch gar nicht auf dem Balkan. Wir sind hier einem romantischen Konzept der Nation verhaftet, suchen nach patriarchalischen Stiftern und Heroen der Nation. Wir imitieren den Prozess, den Westeuropa im letzten Jahrhundert durchlaufen hat, um europäisch zu werden. Aber dafür ist es zu spät. Diese Chance haben wir Albaner verpasst. Nun müssen wir neue Wege der kulturellen Selbstverständigung finden.» Mit Propagandisten einer homogenen albanischen Kultur, wie jenen von der Universität Tetovo sei keine Zusammenarbeit möglich, sagt Abazi. «Die Vision eines rein albanischen Staates ist Unsinn. Sie hat nur folkloristischen Wert. Schlimmer, sie ist Ausdruck folkloristischen Denkens.» Bedeutet das, dass die Grenzen auf dem Balkan unverändert bleiben? «Nicht ganz. Im Kosovo entsteht ein neuer Staat. Damit ändert sich auch das Umfeld für Skopje. Die Achse Belgrad–Skopje verliert dramatisch an Bedeutung, und es müssen neue wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit dem neuen kosovo-albanischen Staat geknüpft werden. Die Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Albanern wird steigen müssen. Bisher war sie nicht sehr gross.» Und dann sagt Kasapi einen Satz, den ich noch viele Male hören werde: «Je durchlässiger die Grenzen sind, desto weniger müssen sie verändert werden.»

Brüssel des Balkans

Der Gedanke ist elegant und besticht viele WesteuropäerInnen. Statt dass man sich die Köpfe blutig schlägt, um die Staatsgrenzen mit den ethnischen Grenzen zur Deckung zu bringen, intensiviert man grenzüberschreitend die Kooperation der gleichstämmigen Ethnien. Aber dem Argument fehlt die historische Bodenhaftung. Gerade die Geschichte Westeuropas zeigt, dass die Voraussetzung zum Grenzabbau in sich gefestigte Nationalstaaten sind. Und genau das fehlt auf dem Balkan und es fehlt ganz besonders hier: Mazedonien ist ein schwacher Staat, von zwei Gesellschaften bewohnt, die vor allem das gegenseitige Misstrauen verbindet. In dieser Situation bildet die transnationale ethnisch motivierte Kooperation eine direkte Konkurrenz zur staatlichen multiethnischen Integration, die ohnehin notorisch schwach ist. Nicht die Vereinigung der «Gleichen» über die Grenzen, sondern die Kooperation der «Verschiedenen» innerhalb der Grenzen wäre die erste friedenssichernde Massnahme. Da scheint der Vorschlag des Philosophen Shkëlzen Maliqi, der aus seinem Exil in Tetovo nach Pristina zurückgekehrt ist, realistischer, wenn auch für eine ferne Zukunft. Er geht von den bestehenden Staaten aus, die aber in ein neues System gebracht werden sollen. Nicht mehr die stärkste Macht, früher Belgrad, soll für Ordnung sorgen, sondern der schwächste Punkt: Skopje. Hier überschneiden sich die Interessen von vier Staaten mit etwa gleichen Ressourcen: Griechenland, Bulgarien, Serbien und Albanien. Die Vision Maliqis ist es, Skopje zum «Brüssel des Balkans» zu machen. Das hätte innen- und aussenpolitische Konsequenzen. Innenpolitisch würde Skopje die Hauptstadt einer multiethnischen Staatsnation, deren Identität nicht durch ein Volk, sondern durch das politische Projekt des gemeinsamen Staates definiert wäre. Aussenpolitisch wäre Mazedonien nicht länger die Wunschbeute der «vier Wölfe», die sich seit dem Ende der türkischen Herrschaft von 1912 immer wieder um das kleine Land gestritten haben. Als Zentrum und Moderator der multilateralen Kooperation würden die Nachbarn Mazedonien nicht mehr bedrohen, sondern schon aus Konkurrenzgründen dessen Existenz garantieren.
Aber das ist Zukunftsmusik. Nicht nur die Politiker, auch die meisten Intellektuellen sind noch weit davon entfernt, sich etwas anderes als ethnisch definierte Nationalstaaten vorstellen zu können. Die elegante Teuta Arifi, die mir dies auseinander setzt, bezeichnet sich als «Postfeministin», ist promovierte Philosophin und Sprachwissenschaftlerin und lehrt an der Universität Skopje. «Auf beiden Seiten haben die Intellektuellen versagt und statt universalistischer Ideen die Nation verherrlicht. Für albanische Intellektuelle war es während der serbischen Verfolgungen fast unmöglich, dem Ethnonationalismus zu widerstehen. Vor allem im Kosovo fand eine Politisierung des intellektuellen Denkens statt. Intellektuelle wurden Politiker, und das hat ihr Denken verändert. Hier in Mazedonien blieben die Rollen stärker getrennt, die Intellektuellen intellektueller.» Als ich auf die
Parallele zwischen dem berüchtigten Memorandum der serbischen Akademie der Wissenschaften und der grossalbanischen «Plattform» der Akademie in Tirana «zur Lösung der albanischen Frage» hinweise, widerspricht sie energisch. «Inspiriert von den Belgrader Ideen, wurde eine mörderische Politik umgesetzt. Wegen Grossalbanien, dem ich kritisch gegenüberstehe, wurden keine Serben umgebracht. Aber die albanischen Intellektuellen müssen jetzt zeigen, dass sie Verantwortung übernehmen können. Wir dürfen es nicht dulden, dass die Redefreiheit eines Veton Surroi beschränkt wird, und wir müssen dafür kämpfen, dass im Kosovo ein demokratischer Rechtsstaat entsteht.»

Nochmals gut gegangen?

Nur knapp ist Mazedonien bei den Wahlen um die Nachfolge des greisen Präsidenten Kiro Gligorov einer gefährlichen Eskalation der ethnischen Spannungen entgangen. In der Schlussrunde trat der auch von AlbanerInnen unterstützte Rechtskandidat Boris Trajkovski gegen den linksoppositionellen Tito Petkovski an, der einen betont nationalistischen, antialbanischen Wahlkampf geführt hatte. Trajkovski gewann mit 592000, Petkovski erhielt 515000 Stimmen. Sofort nach Bekanntgabe des Resultats kam es zu heftigen Protesten der unterlegenen Sozialdemokratischen Partei, die in einer Grossdemonstration in Skopje am 18. November gipfelte. Mehr oder weniger unverhohlen wurde der albanischen Bevölkerung kollektiver Wahlbetrug zugunsten Trajkovskis vorgeworfen. Obwohl die Wahlbeobachter der OSZE und der EU nur kleinere Unregelmässigkeiten festgestellt hatten, beschloss das Oberste Gericht am 28. November, die Wahlen seien in 221 (mehrheitlich albanischen) Wahlbezirken zu wiederholen. Dagegen protestierten die albanischen Parteien. Die Gefahr eines Wahlboykotts lag in der Luft. Hätte er stattgefunden, wäre die ohnehin schwache Legitimität, die der Staat bei der albanischen Bevölkerung geniesst, weiter gesunken. Statt zum Boykott wurde indessen erneut zur Wahl Trajkovskis aufgerufen, die dieser am 5. Dezember mit dem fast gleichen Resultat nochmals gewann. Die SozialdemokratInnen erheben nun erneut Vorwürfe, die sich diesmal weniger gegen die AlbanerInnen als gegen den Staat richten. Er sei nicht in der Lage, korrekte Wahlen durchzuführen.