Kosovo: Flugzeug ohne Pilot
Sind die jüngsten Unruhen im Uno-Protektorat eine Folge des Nato-Kriegs vor fünf Jahren? Angesichts vieler ungelöster Fragen wächst die Ungeduld auf allen Seiten. Eine Klärung scheint weit entfernt.
Sind die jüngsten Unruhen im Uno-Protektorat eine Folge des Nato-Kriegs vor fünf Jahren? Angesichts vieler ungelöster Fragen wächst die Ungeduld auf allen Seiten. Eine Klärung scheint weit entfernt.
In Mitrovica ballen sich alle Widersprüche des Kosovo auf einem kleinen Fleck. Seit dem Einzug der internationalen Truppen im Kosovo und den Attacken der albanischen Bevölkerungsmehrheit ist hier ein einheitlich serbisches Gebilde entstanden, zu dem der nördliche Teil der Stadt sowie die Gemeinden Zvecan, Zubin Potok und Leposavic gehören. Ungefähr die Hälfte der rund 80 000 in Kosovo verbliebenen SerbInnen wohnt in dieser Region.
In der Stadt Mitrovica hat die hier das Kommando führende französische Armee das Gebiet nahe dem Fluss Ibar, der die Grenze zwischen den albanischen und serbischen Quartieren bildet, grossspurig «Vertrauenszone» getauft. Hier wurden sogar die Checkpoints und Sperren, die die Trennung der Stadt nur zu deutlich machten, allmählich aufgehoben.
Doch Mitrovica ist nach wie vor in zum Teil winzige ethnische Enklaven aufgeteilt. Dies bestimmt den Verkehr und den Handel, und entsprechend entstanden verschiedene Ordnungsdienste, die kaum zu kontrollieren sind. Wer etwa die «Bosnjacka Mahala» überwacht, ein Quartier, das die französischen Soldaten gerne «Klein-Bosnien» nennen, weiss niemand: Dieses multiethnische Viertel liegt mitten in der so genannten Vertrauenszone, dort laufen alle möglichen Geschäfte ab. «Die französischen Truppen kontrollieren gerade mal die Übergänge nach ´Klein-Bosnien´, aber im Innern gibt es dort kein geltendes Recht», sagt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. «Der kleinste Zwischenfall dort kann eine Explosion in der ganzen Stadt verursachen», meinte er lange vor dem Mittwoch letzter Woche. «Mitrovica ist ein Pulverfass.»
Von der albanischen Seite versuchten Extremisten schon früher regelmässig, die Brücke zu überschreiten, die die beiden Stadtteile trennt. Auf der serbischen Seite des Flusses stellen die «Brückenwächter» eine gefährliche und gefürchtete Parallelpolizei dar. Ausgerüstet mit Funkgeräten, überwachen sie alle Bewegungen. «Anfänglich sah die serbische Bevölkerung in ihnen eine Sicherheitsgarantie», sagte Slobodan Ristic, ein Französischlehrer. «Aber letztlich sind sie Kriminelle, die sich selber zu Patrioten erklären.»
Politisch sind sich die SerbInnen von Mitrovica uneiniger denn je. Ihr gemässigter Flügel wird vom früheren Führer des Serbischen Nationalrates, Oliver Ivanic, angeführt, der sich dafür entschied, bei den von den Uno-Behörden im Kosovo mühsam eingerichteten Institutionen mitzumachen. So ist Ivanic heute Vizepräsident des Parlaments des Kosovo. Die Radikalen, die von Marko Jaksic und Mladen Ivanic, zwei Ärzten am städtischen Krankenhaus, angeführt werden, halten ein solches Engagement in den Uno-Institutionen für Verrat. Die «Brückenwächter» anerkennen nur noch Marko Jaksic als ihren Führer.
«Im serbischen Stadtteil gibt es immer zwei Autoritäten», erklärt Slobodan Ristic. «Jene der Vereinten Nationen ist rein theoretisch. In Wirklichkeit sind es immer noch von Belgrad kontrollierte Strukturen, oder gar solche, die mit dem Milosevic-Regime verbunden waren, die die Stadt kontrollieren.» Einig sind sich die SerbInnen einzig mit der Forderung nach der Schaffung von eigenen Gemeindebehörden in ihrem Stadtteil. «Die Radikalen haben keine Legitimität», sagt der frühere Sprecher des Serbischen Nationalrats und Vertreter der gemässigten SerbInnen, Nikola Kabasic. Er fährt jedoch fort: «Aber man muss endlich eingestehen, dass die Stadt tatsächlich zweigeteilt ist. Daher sind für Mitrovica-Nord eigene Strukturen zu schaffen. Geschieht dies nicht, werden die dort wohnenden 12 000 Serben durch die von den 80 000 im Süden der Stadt lebenden Albanern beherrschten Institutionen übergangen.»
Nikola Kabasic findet nicht nur für die Radikalen auf serbischer Seite, sondern auch für den Nationalismus der albanischen Anführer harte Worte: «Ibrahim Rugova ist kaum weniger radikal als die andern», meint er. «In den zwei Jahren seiner Präsidentschaft hat er kein einziges Mal versucht, die serbischen Vertreter zu treffen oder die Lage in den serbischen Enklaven mit eigenen Augen zu sehen.» Seiner Meinung nach werden «echte Diskussionen erst dann möglich sein, wenn die albanischen Politiker ihre Verantwortung gegenüber ihren serbischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wahrnehmen und den Mut haben werden, die Gewalt gegen Serbinnen und Serben, die Angriffe auf ihre Bewegungsfreiheit und ihre persönlichen Rechte ausdrücklich zu verurteilen»; erst, wenn sie aufhören, «alle Serben als Kriegsverbrecher und Bürger zweiter Klasse zu betrachten». Doch dazu ist derzeit kein albanischer Politiker bereit, denn der politische Preis dafür wäre zu hoch: «Die Albaner betreiben nur demagogische Übertreibung anstatt Politik. Für die Regierung in Belgrad ist der Kosovo nur ein Thema für innenpolitische Manöver zu Wahlzeiten. Die internationalen Akteure geben der einen oder andern Seite von Zeit zu Zeit eine Garantie oder sonst ein Zückerchen», stellt Kabasic fest. Die wenigen Projekte, die seit 1999 einen Dialog zwischen den verschiedenen Gemeinschaften in Gang bringen sollten, wurden ausschliesslich von internationaler Seite angeregt und fanden kaum ein wirkliches Echo in der Bevölkerung.
Vor fünf Jahren, am 24. März 1999, begann die Nato ihren Angriffskrieg gegen Jugoslawien mit dem erklärten Ziel, die Übergriffe der serbischen Sicherheitskräfte in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz Kosovo zu beenden. Heute ist der Kosovo ein Protektorat der Vereinten Nationen, sein künftiger politischer Status ist weiterhin unklar, 200 000 SerbInnen und Roma mussten aus der Region fliehen, die Provinz verarmt zusehends.
Die vom Uno-Sicherheitsrat am 11. Juni 1999 verabschiedete Resolution 1244 sah vor, den Kosovo provisorisch unter Uno-Verwaltung zu stellen, unter «Wahrung der territorialen Integrität der Föderation Jugoslawien». Die Regierung in Belgrad besteht auf der genauen Umsetzung der Resolution 1244, während die Uno-Mission im Kosovo (Unmik) seit 1999 versucht, im Kosovo aus dem Nichts staatliche Institutionen zu schaffen.
Dabei stösst sie immer wieder an die Widersprüche des unklaren Status dieser Provinz und auch ihres eigenen Mandats. Michael Steiner, der in den Jahren 2002 und 2003 der Unmik vorstand, hat zwar ein umfassendes Programm zur «Übertragung der Kompetenzen» von der internationalen Verwaltung auf gewählte lokale Gremien, insbesondere der Gemeinden, begonnen. Doch sein Plan rief auf beiden Seiten Wut hervor – sowohl die der SerbInnen, die darin einen Schritt in Richtung der von ihnen abgelehnten Unabhängigkeit sahen, aber auch die der AlbanerInnen, die die internationale Aufsicht immer noch als zu drückend empfinden. Die Kompetenzen der Gemeinderäte und des Parlaments, deren Mitglieder in den Jahren 2000 und 2001 gewählt wurden, sind tatsächlich sehr begrenzt. Der Unmik-Chef behält sich den letzten Entscheid darüber vor, ihre Beschlüsse anzunehmen oder abzulehnen. Ibrahim Rugova, der Kopf der Demokratischen Liga des Kosovo (DLK), wurde im Januar 2002 zum Präsidenten der Provinz gewählt, doch er hat lediglich eine rein protokollarische Funktion.
Mit etlicher Verspätung wurde im Mai 2003 der Prozess der Privatisierung von staatlichen Unternehmen begonnen. Diese Privatisierung wird von der Kosovo Trust Agency (KTA) überwacht, die ihrerseits von der «Europäischen Agentur für Wiederaufbau» im früheren Jugoslawien kontrolliert wird. Im September beschloss die KTA jedoch, ihre dritte Ausschreibung zur Privatisierung – sie betraf 22 Unternehmen – zu stoppen. Die öffentlichen Betriebe des Kosovo unterstanden dem jugoslawischen Recht, und die KTA setzte sich dem Vorwurf aus, sie würde etwas privatisieren, das ihr gar nicht gehört.
Dieses Beispiel zeigt die Grenzen des internationalen Mandats im Kosovo. Die Provinz befindet sich in einer so unklaren Situation, dass jede Veränderung, jede Investition entweder wegen politischen Widerstands oder wegen legaler Probleme verhindert wird – und dies, obwohl die Hälfte der aktiven Bevölkerung arbeitslos ist. «Als ich im Jahr 2000 im Kosovo angekommen bin, versuchten viele internationale Beamte, mehr schlecht als recht einige Entwicklungsprojekte anzukurbeln. Heute scheint sich jedermann mit dem Gedanken abgefunden zu haben, dass im Kosovo nie etwas produziert werden wird und dass er weiter von internationalen Spenden und vom Geld, das KosovarInnen aus dem Ausland überweisen, abhängig bleiben wird – und vom organisierten Verbrechen», fasst ein erfahrener Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation die Lage zusammen.
Die albanischen Politiker bestehen auf dem provisorischen Charakter des internationalen Protektorats, das in ihren Augen nur eine Etappe auf dem Weg zur Unabhängigkeit des Kosovo darstellt. Der serbische Analytiker und Kolumnist der Belgrader Tageszeitung «Vreme», Borislav Milosevic, hat kürzlich festgehalten, dass «die Resolution 1244 eine Art ´heiliges Buch´ geworden ist, an das niemand mehr glaubt» – umso mehr, als die Unmik bisher unfähig gewesen sei, «eine offizielle Interpretation dieser Resolution» zu etablieren. Der Kosovo gleiche immer mehr einem schlingernden Boot, sagt er. Der albanische Kolumnist Veton Surroi hat ein ähnliches Bild gewählt: Der Kosovo sei «ein Flugzeug ohne Pilot».
Ein weiteres Scheitern der Uno-Verwaltung zeigt sich in der Entwicklung des organisierten Verbrechens. Mehr denn je ist der Kosovo eine Drehscheibe für den Drogen- und Menschenhandel, und seine durchlässigen Grenzen werden für die verschiedensten Geschäfte benutzt. Die Uno-Polizei teilt sich die Aufgaben mit der neu geschaffenen Kosovo-Polizei, die jedoch zum Teil aus Mitgliedern der früheren Befreiungsarmee UCK besteht oder sogar direkt von kriminellen Gruppen infiltriert ist. Unter dem Einfluss der gleichen Kreise stehen die Übersetzer, unentbehrliche Helfer der Uno-Polizisten in ihrer täglichen Arbeit.
Diplomatische Kreise, insbesondere die der USA, reden gerne vom Jahr 2005 – dann soll über den definitiven Status des Kosovo entschieden werden. Am wahrscheinlichsten ist derzeit, dass die internationale Gemeinschaft dem Kosovo eine Unabhängigkeit zugestehen will, bei gleichzeitiger Anerkennung der serbischen Enklaven in einem föderalistischen System – was auf eine Aufteilung des Kosovo hinausläuft. Diese Option findet offenbar auch bei einigen einflussreichen Kreisen in Belgrad Unterstützung. Ob der Zeitplan eingehalten werden kann, ist unsicher. Die Verantwortung für die Sicherheit jedenfalls soll – wie im Falle von Bosnien-Herzegowina – von der Nato an die EU übergehen.
Seit dem Gipfeltreffen der Regierungschefs der Europäischen Union in Thessaloniki vom Juni 2003 wird im Kosovo eine neue «europäische Doktrin» angewendet. Wie der gesamte «West-Balkan» – eine neue Bezeichnung für die früheren jugoslawischen Republiken inklusive Albanien, aber ohne Slowenien – habe «natürlich» auch der Kosovo den Drang, eines Tages der Europäischen Union beizutreten. Diese Aussicht auf eine europäische Integration soll die territorialen Ansprüche und Konflikte in der Region mit der Zeit auflösen und einer neuen Ära des Friedens Platz machen. Die führenden PolitikerInnen der EU hüten sich jedoch, für diese Perspektive einen Zeitplan zu nennen.
Viele deuten den andauernd instabilen Zustand als logische Folge dieser allzu weit entfernten Aussicht auf eine europäische Integration. Doch in der albanischen Bevölkerung wächst die Ungeduld. Seit einem Jahr fordert eine neue Gruppe namens Nationale Albanische Armee die Vereinigung der «albanischen Erde» und die Schaffung eines grossalbanischen Staates.
Für jene europäischen Länder, die am meisten albanische Flüchtlinge aufnahmen, darunter die Schweiz, wurde die Lösung der Kosovo-Krise zu einer innenpolitischen Frage. Seit 1999 haben diese Staaten eine mehr oder weniger strikte Heimschaffungs- und Heimkehrpolitik betrieben. Die Radikalisierung und Verarmung der AlbanerInnen im Kosovo kann leicht zu neuen Migrationen führen. Die Flucht nach Westen, zu welchem Preis auch immer, wird für eine grosse Mehrheit der jungen AlbanerInnen im Kosovo die einzige Zukunftsperspektive bleiben.