Das Bundesgericht und die deutschen Rassengesetze (I): Die Selbstamnestierung der Schweiz

Diese Woche veröffentlichte das Bundesgericht die schriftliche Begründung seines Urteils vom 21. Januar im Fall Spring. Das Gericht macht die Schweiz weltweit zu einem Sonderfall: Verbrechen im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Genozid können hier verjähren.

Das Schweizerische Bundesgericht kannte als Verfassungsgericht auch grosse Zeiten. In den sechziger Jahren leitete es mit der Anerkennung ungeschriebener Freiheitsrechte eine neue Epoche bei der Verwirklichung der Grundrechte ein. Und noch vor kurzem – im Urteil zu den Marcos-Geldern – formulierte das Gericht ausdrücklich, dass die Gerichte «als Vollzugsträger der Völkerrechtsordnung» dazu berufen seien, die Menschenrechte durchzusetzen.
Im Fall Spring hat das Bundesgericht nun ausgerechnet vor dem grössten Unrecht versagt, dessen sich schweizerische Organe in der ganzen Geschichte des Bundesstaates jemals schuldig gemacht haben. Der damals 16-jährige Joseph Spring fiel im November 1943 Weisungen der Polizeiabteilung zum Opfer, die sich an die Nazi-Gesetze anlehnten. Sie drohten Flüchtlingen «nur aus Rassengründen», das heisst den Juden und Jüdinnen, beim zweiten Einreiseversuch die «direkte Übergabe» und damit die Auslieferung an die Organe des Nazi-Staates an. Spring fiel im Waadtländer Jura den notorisch antisemitischen Beamten des Zollkreises V in die Hände, die ihn mit der Übergabe der echten Papiere an die deutschen Grenzorgane gleichzeitig als Juden denunzierten. Spring war als Jude für die schweizerischen Organe – im Unterschied beispielsweise zu den Militärinternierten – so rechtlos, dass sie sich dazu berechtigt fühlten, mit seiner Auslieferung an die Nazis über ihn faktisch das Todesurteil zu fällen. Um diese Frage – ob eine solche Kooperation mit den Organen des Nazi-Staats Recht war oder nicht – ging es im Prozess am 21. Januar in Lausanne, zu dem nun die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt.

Die Frage des Menschheitsverbrechens

Bereits während der Nazi-Zeit hatte sich das Bundesgericht mit der deutschen Rassengesetzgebung zu befassen. Wenn auch nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik, sondern wegen vermögensrechtlicher Fragen. Das oberste Schweizer Gericht hatte damals unmissverständlich festgehalten, dass die Nazi-Rassengesetze den wichtigsten Grundsätzen des schweizerischen Rechts, dem so genannten Ordre public, aufs schärfste widersprechen und dass sie deshalb nicht angewendet werden dürften. Überlegungen auf diesem Niveau sucht man im Urteil Spring vergeblich. Das Urteil ergeht sich vielmehr über Seiten in Formalien und weicht den zentralen Fragen systematisch aus.
Obwohl im Zentrum der Klage, bringt es das Bundesgericht fertig, die Frage, ob mit der Auslieferung Springs an die Organe des Nazi-Staates Beihilfe zu einem Menschheitsverbrechen geleistet wurde, schlicht und einfach zu übergehen. Dies mit dem Hinweis, die Siegermächte hätten einen solchen Vorwurf damals nicht erhoben. Als liesse sich die fundamentale Frage von Recht und Unrecht darauf reduzieren, was die Siegermächte seinerzeit gesagt hatten.
Niemand wird zu bestreiten wagen, dass der wegen seiner jüdischen Herkunft an die Nazis ausgelieferte Joseph Spring in Auschwitz Opfer eines Menschheitsverbrechens wurde. Ebenso klar ist, dass die Schergen, die ihn im besetzten Frankreich, ohne jede Möglichkeit des Entkommens, ins Gefängnis nach Bourg und nachher nach Drancy und Auschwitz deportierten, Beihilfe zu diesem Verbrechen leisteten (für vergleichbare Taten in Bordeaux wurde Maurice Papon in Frankreich kürzlich verurteilt). Was unterscheidet diese Form von Beihilfe von der Auslieferung durch die Schweizer Grenzorgane? Garantiert die Schweizer Staatsbürgerschaft, garantieren die antisemitischen Weisungen der schweizerischen Polizeiabteilung juristische Immunität? Das Bundesgericht weigert sich, das Thema der Beihilfe auch nur anzusprechen.

Der einzige Staat der Welt

Gleichzeitig stellt das Bundesgericht die Organe des Schweizer Staates in einer völlig neuartigen Weise unter den Schutz der Verjährung. Entgegen der überwiegenden Rechtslehre und entgegen allen sonst im Haftpflichtrecht geltenden Regeln (wonach wenigstens die Fristen des Strafrechts zu beachten sind) behauptet das Bundesgericht, dass der Schweizer Staat, und nur dieser, vor Ansprüchen nach einer Verjährungsfrist von zehn Jahren für immer geschützt sei. Die These des Bundesgerichts bedeutet nichts anderes, als dass der Schweizer Staat als einziger Staat der Welt für sich in Anspruch nimmt, dass ihn die Verjährung vor Ansprüchen im Zusammenhang mit dem Menschheitsverbrechen der Vernichtung der europäischen Juden schützt. Überall sonst wurde diese Selbstamnestierung der Täter durch Verjährung beseitigt, teilweise nach heftigen Auseinandersetzungen. Der Grundsatz der Unverjährbarkeit im Zusammenhang mit Völkermord gilt heute allgemein als ein von allen Nationen anerkanntes Rechtsprinzip.
Die Selbstamnestierung des Schweizer Staats durch das Bundesgericht ist umso zynischer, als sich gleichzeitig die Schweizer Banken im Rahmen der «class actions» in den USA nicht auf die Verjährung berufen haben – trotz dem Umstand, dass es dort um Geld und nicht um Menschenleben ging. Und noch mehr: Obwohl die antisemitische Flüchtlingspolitik nicht den Banken zur Last gelegt werden kann, sind die Ansprüche an die Schweiz aus der Flüchtlingspolitik in den Bankenvergleich vor dem Bezirksrichter in Brooklyn einbezogen worden. Auch hier wurde nie behauptet, solche Ansprüche seien verjährt. Deutlicher als durch den amerikanischen Vergleich könnte das Versagen der Schweizer Justiz bei der Bewältigung der Folgen der Nazi-Verbrechen nicht vor Augen geführt werden.

Altes Geschichtsbild

Das Bundesgericht hat im Fall Spring geurteilt, als würde sich die Schweiz noch immer in einem Staatsnotstand befinden, der menschenrechtliche Überlegungen nicht zuliesse. Der Schlüssel für die Mentalität des Gerichts offenbart sich im überholten Geschichtsbild, das in der Urteilsbegründung zum Ausdruck kommt. Zwar fehlt das noch-malige Eingeständnis, man habe den Bergier-Bericht nicht gelesen. An der mündlichen Verhandlung hatte der Referent noch erklärt, den anderthalb Monate zuvor erschienenen Flüchtlingsbericht für seinen Urteilsantrag nicht berücksichtigt zu haben. Dennoch werden die Erkenntnisse des Bergier-Berichts und überhaupt die neuere Geschichtswissenschaft systematisch ausgeblendet. Die historischen Leitfiguren des Gerichts sind ein Alt-NZZ-Redaktor (Alfred Cattani) und ein Alt-Generalstabschef (Hans Senn). So bringt es das Urteil zum Beispiel fertig, die Flüchtlingspolitik noch einmal mit der Lebensmittelknappheit zu begründen. Dabei hat der Bergier-Bericht genau diese Rechtfertigung widerlegt. Und auch von anderen rechtlich relevanten Erkenntnissen des Bergier-Berichts wollten die Richter nichts wissen: Nichts vom Antisemitismus als Ursache der judenfeindlichen Flüchtlingspolitik. Und vor allem nichts davon, welche grosse Bedeutung die Haltung jedes Einzelnen beim Entscheid über Leben und Tod besass. Dass drei der fünf Richter bei all dem ein schlechtes Gewissen hatten, kommt einzig in der Parteientschädigung zum Ausdruck, die entgegen allen üblichen Regeln zugesprochen wurde.
Es gab Zeiten, in denen das Bundesgericht mit seiner Rechtsprechung neue Perspektiven in der gesellschaftlichen Diskussion eröffnete. Mit dem Urteil Spring bleibt das Bundesgericht weit hinter dem Stand der Auseinandersetzung in der schweizerischen Gesellschaft zurück.

Zum Autor

Paul Rechsteiner ist SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Er vertrat als Rechtsanwalt Joseph Spring und in einem früheren Verfahren Eli Carmel, der von der Basler Regierung 1997 für seine Auslieferung 1939 an die Nazis eine Entschädigung erhielt.