Die Schweiz und der Nationalsozialismus: Beihilfe zum Völkermord

Zum Fall «Joseph Spring gegen Schweizerische Eidgenossenschaft», wie das Dossier mittlerweile heisst, hat der Anwalt Joseph Springs, der St. Galler SP-Nationalrat Paul Rechsteiner, Mitte Juli beim Bundesgericht eine vierzigseitige Klageschrift deponiert. Was der Bundesrat dreieinhalb Wochen zuvor mit knapper Mehrheit verweigert hatte, soll nun auf dem Prozessweg erreicht werden: eine Entschädigung von 100 000 Franken für den Ende 1943 von Schweizer Grenzwächtern an die Deutschen ausgelieferten und als Jude denunzierten, damals sechzehnjährigen Spring.
Damit findet der Prozess Joseph Springs gegen die Schweizer Regierung quasi vor einem weltweiten Publikum statt, er kann zum Beispiel auch in Australien verfolgt werden, wo Spring heute lebt: Es ist ein symbolischer Prozess um eine letztlich auch nur symbolische Summe; ein Prozess gegen die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg anhand eines besonders spektakulären Falles.
Im Kern geht es um die Frage, ob die Schweizer Behörden beim nationalsozialistischen Völkermord, juristisch gesprochen, «Gehilfenschaft» leisteten. Paul Rechsteiner schreibt dem Bundesgericht dazu unter anderem: «Gehilfe ist, wer vorsätzlich in untergeordneter Stellung die Vorsatztat eines andern fördert (...). Dass die Organe des Nazi-Staates die systematische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden – und damit diejenige des Klägers – anstrebten, steht als Haupttat ausser jedem Zweifel. Objektiv kann zudem nicht bestritten werden, dass die Auslieferung des Klägers an die Organe des Nazi-Staates, verbunden mit der Aushändigung der ihn als Jude denunzierenden Papiere, die Haupttat in untergeordneter Stellung förderte.»
Verbrechen gegen die Menschheit beziehungsweise Völkermord sind nach internationalem Recht unverjährbar. Eine Verjährung, schreibt Rechsteiner, bedeute «in der Konsequenz» auch die «Relativierung» eines Verbrechens, und «bei Menschheitsverbrechen wie der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden erträgt es diese Relativierung nicht». Solche Verbrechen hätten keinen Anspruch auf das in der gesetzlichen Einrichtung der Verjährung zum Ausdruck kommende «Recht auf Vergessen». Die besondere Bedeutung der Naziverbrechen wird in der Klageschrift ausser mit juristischen auch mit zahlreichen historischen und philosophischen Argumenten unterstützt: Mit Bezügen zu den Werken Theodor W. Adornos, Karl Jaspers’, Hannah Arendts und Saul Friedländers etwa.
In seinem Entscheid vom 22. Juni hatte der Bundesrat noch behauptet, Springs Anspruch auf eine Genugtuung, falls er überhaupt bestünde, wäre «durch Zeitablauf» längst verwirkt. Der Bundesrat sprach Joseph Spring zwar sein «tief empfundenes Mitgefühl und Bedauern» aus, bestritt aber, dass sich die Schweiz aus juristischer Sicht schuldhaft verhalten hatte, dies obwohl die Schweizer Behörden bei der Auslieferung Springs an die Nazis über die systematische Ausrottung der Juden bereits im Detail Bescheid gewusst hatten. Den bundesrätlichen Beteuerungen, dass ihm das Vergangene Leid tue, dass er «tief betroffen» sei und so weiter, soll jetzt endlich eine verbindliche Anerkennung der schweizerischen Mitverantwortung folgen. Rechsteiner schreibt: «Man kann nicht das ‘unermessliche Leid’ des Klägers verbal bedauern und ihm zugleich eine noch so unvollkommene Wiedergutmachung versagen. Eine solche Handlungsweise liesse sich nicht mehr anders verstehen denn als Bestätigung und Billigung des früheren Verhaltens.»
Er habe nicht mehr viel Zeit im Leben, um etwas für die Allgemeinheit zu tun, sagte der Auschwitz-Überlebende Joseph Spring zur WoZ. Seine Klage sei ein Beitrag dazu.

Ergänzung vom 27.8.98:

Am Montag nach dem Abschluss des globalen «settlements» zwischen den Schweizer Grossbanken und ihren US-amerikanischen Klägern hat das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) beim Bundesgericht Fristverlängerung für seine Klageantwort im Fall Joseph Spring gegen die Schweiz beantragt. Hofft man im EFD vielleicht, die Wiedergutmachungsforderungen der ausgeschafften jüdischen Flüchtlinge Joseph Spring und Charles Sonabend bald mit Hilfe des Vergleichs vom Tisch zu haben? Offenbar doch nicht: «Die Fälle Spring und Sonabend und der Vergleich der Banken mit jüdischen Sammelklägern haben nichts miteinander zu tun», erklärte EFD-Sprecher Daniel Eckmann auf Anfrage der «Jüdischen Rundschau» diese Woche: Dass das Gesuch um Fristverlängerung ausgerechnet jetzt gestellt wurde, liege eher am Ende der Sommerferien. Das Bundesgericht hat den Antrag schon bewilligt; eine Antwort auf die im Juli eingereichte Klage wird nun bis Oktober auf sich warten lassen.