Die Strategie des Finanzdepartements: Ertapptes Finanzdepartement
Darf der Schweizerische Bundesrat in einem offiziellen Schriftsatz lügen? Darf ein einzelnes Departement dies tun? Dürfen die Angestellten eines Departementes, wenn sie amtliche Texte verfassen, die Wahrheit unterschlagen und im Namen des Gesamtbundesrates Dinge schreiben, von denen sie wissen, dass sie gar nicht stimmen? Ist in einem Gerichtsprozess, den die Schweizer Regierung führt, jedes Mittel gerechtfertigt, damit die Regierung am Ende gewinnt?
Ist es dann auch legitim, wenn durch eine amtliche Täuschung ein 72-jähriger, gesundheitlich angeschlagener Mann diffamiert wird, der unter anderem aufgrund schweizerischen Verschuldens im Zweiten Weltkrieg nach Auschwitz deportiert worden ist?
Im Fall Joseph Spring gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft, der voraussichtlich noch im kommenden Herbst in Lausanne verhandelt wird, hat Kaspar Villigers Finanzdepartement eine Irreführung dieser Art versucht. Das Departement hat das Bundesgericht im Wortsinn angelogen, es hat eine «bewusst falsche, auf Täuschung angelegte Aussage» abgegeben und wurde dabei ertappt: Das Departement hat ein wissenschaftliches Gutachten unterschlagen, in dem die Darstellung Joseph Springs bestätigt wird, und es hat diese Darstellung wider besseres Wissen in einem Schriftsatz ans Bundesgericht abgestritten.
Die Vorgeschichte
Joseph Spring lebt heute in Melbourne, Australien. Im Herbst 1997 wandte er sich an den St. Galler SP-Nationalrat und Rechtsanwalt Paul Rechsteiner sowie an die WoZ, um seine Geschichte zu erzählen und um Hilfe gegen den Schweizer Staat zu bitten. Spring war im November 1943 von schweizerischen Grenzbeamten bei La Cure im Waadtländer Jura den deutschen Besatzungstruppen in Frankreich ausgeliefert und bei diesen als Jude denunziert worden. Zusammen mit ihm übergaben die Grenzwächter den Deutschen auch seine zwei Cousins, mit denen er aus Belgien in die Schweiz geflohen war, sowie einen nicht-jüdischen Franzosen, der sich dieser Gruppe kurz vor der Grenze angeschlossen hatte.
1943 war Joseph Spring sechzehn Jahre alt, seine Cousins hiessen Sylver und Henri Henenberg, der eine war vierzehn, der andere einundzwanzig und schwer lungenkrank. Die drei Flüchtlinge besassen gefälschte Papiere, die sie als «Arier» tarnten, doch die Schweizer Grenzwächter händigten den Deutschen auch ihre echten Papiere aus, und die Deutschen trennten sie sofort von ihrem nicht-jüdischen Begleiter. Sie sperrten die drei in ein Gefängnis in Bourg-en-Bresse, danach ins französische Durchgangslager Drancy bei Paris und schickten sie schliesslich am 17. Dezember 1943 nach Auschwitz. Am Tag ihres Eintreffens im Vernichtungslager wurden die Brüder Henenberg vergast. Joseph Spring hatte Glück: Er überlebte Auschwitz als Zwangsarbeiter der IG Farben.
Erste Irreführung
Über die Geschichte Joseph Springs wurde in der WoZ im März 1998 erstmals berichtet. Ende Januar 1998 hatte Rechtsanwalt Paul Rechsteiner im Auftrag Springs ein Schadenersatzbegehren von 100 000 Franken an die Schweizer Regierung gerichtet. Im Juni 1998 lehnte der Bundesrat dieses Begehren mit vier zu drei Stimmen ab – wie es hiess, aus Angst, eine direkte Zahlung an einen ausländischen Juden würde als politischer Kniefall verstanden und damit die projektierte Solidaritätsstiftung gefährden. Im Juli 1998 reichte Rechsteiner für Joseph Spring beim Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne eine Klage auf Staatshaftung ein.
Im Oktober 1998 schickte das zuständige Finanzdepartement eine Klageantwort ans Bundesgericht, die Springs Darstellung der Vorfälle von 1943 in einem zentralen Punkt als unglaubwürdig beschrieb: Die Übergabe des Klägers an die Deutschen, so behauptete das Finanzdepartement am 15. Oktober 1998, hätte Ende 1943 zwar den behördlichen Weisungen entsprochen, im Fall Springs sei ihre Ausführung jedoch «zweifelhaft». Das Departement habe nämlich Zeitzeugen befragt, und aus deren Aussagen hätten sich «gewisse Anhaltspunkte» dafür ergeben,
«dass diese Weisungen in La Cure nicht buchstabengetreu angewendet wurden; die betreffenden Zeitzeugen erinnern sich jedenfalls nicht daran, dass in La Cure je Überstellungen an die Deutschen stattgefunden hätten».
Die Namen der Zeitzeugen nannte die Klageantwort nicht. Aber wohl um zu demonstrieren, wie schlecht es um Springs Erinnerungen an den schlimmsten Tag seines Lebens generell stand, erklärte das Finanzdepartement auch noch, eine Jugendherberge, in der Spring nach eigener Aussage vor dem Grenzübertritt übernachtete, habe in La Cure gar nie existiert. Dass sich der Kläger
«an gewisse Begleitumstände nicht mehr genau erinnert, ist nach über fünfzig Jahren mehr als verständlich»,
schrieb das Finanzdepartement – und blamierte sich öffentlich: Denn wenige Wochen später, im Dezember 1998, publizierte die WoZ eine aktuelle Fotografie der Jugendherberge von La Cure, die heute noch in Betrieb ist, zusammen mit einer im November 1943 aufgenommenen Fotografie, auf der Joseph Spring vor demselben Gebäude steht.
Auch für Springs Auslieferung an die Deutschen fand die WoZ schliesslich einen schriftlichen Beweis: Im einzigen heute noch vorhandenen Akteneintrag zu dieser Angelegenheit heisst es nämlich über die Ausschaffung der vier Flüchtlinge:
«Refoulement par la route permise»
«Ausschaffung auf dem erlaubten Weg» – und der «erlaubte» oder vorgesehene Weg konnte zu jener Zeit nach den Bestimmungen des Bundes nur ein offizieller, auf beiden Seiten bewachter Grenzübergang sein.
Die Lüge
Tatsächlich wäre diese Beweisführung im Dezember 1998 gar nicht mehr nötig gewesen. Bereits im März 1998 hatte das Finanzdepartement nämlich beim Bundesarchiv eine Stellungnahme zum Fall Spring bestellt und vom Historiker Guido Koller ein wissenschaftliches Gutachten erhalten. Koller, einer der besten Kenner der flüchtlingspolitischen Vorgänge an der schweizerisch-französischen Grenze während des Krieges, bestätigte die Darstellung Joseph Springs und die Berichterstattung der WoZ in allen wesentlichen Teilen. Doch das Finanzdepartement schubladisierte das Gutachten, die Wahrheit passte ihm nicht in den Kram, und begann Springs Version – und damit die Interpretation des eigenen Experten – wider besseres Wissen in Frage zu stellen.
Wo der Historiker Koller im Frühjahr 1998 geschrieben hatte:
«Die Ergänzung ‘par la route permise’ macht klar, dass die Gruppe den deutschen Grenzorganen in La Cure ausgeliefert wurde»,
da behauptete Fürsprecherin Barbara Schaerer, die Chefin des Rechtsdienstes im Finanzdepartement, am 15. Oktober 1998 unverfroren,
«die Überstellung des Klägers an die Deutschen ist (…) zweifelhaft».
Erst als alles Abstreiten nichts mehr nützte und die WoZ zusammen mit Spring und dessen Anwalt immer neue Belege nennen konnte, erklärte das Finanzdepartement am 8. April 1999 plötzlich, die «historischen Zusatzabklärungen» des Klägers zeigten nun,
«dass ein Protokolleintrag ‘par la route permise’ als zumindest indirekte Übergabe an die ausländischen Grenzposten interpretiert werden muss, da sich die beiden Grenzübergänge auf der betreffenden Strasse unmittelbar gegenüberstehen.»
Zu diesem Zeitpunkt waren dem Rechtsdienst des Departements die entsprechenden Ausführungen Guido Kollers seit mehr als einem Jahr bekannt. Spring und sein Anwalt wussten noch nichts davon. Erst im Juli 1999, nachdem die Klägerpartei von dessen Existenz erfahren hatte, bequemte sich das Finanzdepartement, Kollers Text dem Gericht vorzulegen. Die Chefin des Rechtsdienstes tat dies widerstrebend. Das Gutachten, das ihren eigenen früheren Ausführungen direkt widersprach, bezeichnete sie als «verwaltungsinternes Arbeitspapier», welches zwar «einen guten historischen Überblick» gebe, daneben «aber auch persönliche Auffassungen, Wertungen und Schlussfolgerungen enthalte» und letztlich zur «prozessualen Aktenlage» keine «wesentlichen neuen Tatsachenerkenntnisse» beitragen könne.
Neue Tricks
Inzwischen hatte das Finanzdepartement noch mit einem weiteren Trick versucht, den Fall Joseph Spring wieder loszuwerden: Im Namen des Bundesrates forderte der Rechtsdienst vom Bundesgericht Anfang April 1999 die sofortige Sistierung des Verfahrens, weil Spring sich ja an der New Yorker «Globallösung» beteiligen könne. Dieser gerichtlich vereinbarte Vergleich zwischen Grossbanken und jüdischen Sammelklägern schliesst sonderbarerweise die Forderungen von allen abgewiesenen Flüchtlingen aus der Nazizeit an den Schweizer Staat explizit mit ein, obwohl sich die Schweiz (aber auch die meisten überlebenden Flüchtlinge) an den New Yorker Verhandlungen gar nicht beteiligten, obwohl der Bundesrat keinen Rappen an die Vergleichssumme von 1,25 Milliarden US-Dollar zahlt – und obwohl die US-amerikanische Rechtssprechung ja eigentlich noch nicht in der ganzen Welt gilt.
Um die Souveränität der schweizerischen Politik und Rechtsprechung kümmerte sich das Finanzdepartement in diesem Zusammenhang wenig, und in einem andern Fall ist die Rechnunƒ«dg auch aufgegangen: Im März 1999 sistierte das Bundesgericht das Verfahren von Charles Sonabend. Dieser war 1942 zusammen mit seiner Familie ausgeschafft worden. Der Fall Sonabend kann, wenn überhaupt, frühestens im nächsten Dezember wieder aufgenommen werden, weil Sonabend in New York als einer von vielen tausend Klägern gegen die Banken auftritt. Auch in einem anderen der WoZ bekannten Wiedergutmachungsfall – jenem der fünfköpfigen belgischen Familie Schachne, die am 29. Oktober 1943 aus Genf nach Frankreich zurückgejagt wurde – hat die Strategie des Finanzdepartements gewirkt: Samuel Schachne, einer der Söhne dieser Familie, hat eine ursprünglich geplante Klage in Lausanne gar nicht erst probiert, sondern sich nach dem Entscheid im Fall Sonabend ebenfalls dem New Yorker Bankenvergleich angeschlossen, obgleich er an die Banken keine begründeten Ansprüche hat.
Bei Joseph Spring erlitt das Finanzdepartement mit dem Sistierungsantrag jedoch eine erste Niederlage. Als Spring ausdrücklich und verbindlich erklärte, dass er sich am New Yorker Vergleich nicht beteiligen werde, lehnte das Gericht die Verschiebung ab. Und im Juli 1999 wies das Gericht auch den nächsten Antrag des Departements zurück. Dieses hatte das Verfahren einzig auf die – eher formale und weniger politische – Frage beschränken wollen, ob die Ansprüche Springs nicht früher hätten gestellt werden müssen. Am 21. Juli erklärte das Bundesgericht das Vorbereitungsverfahren für abgeschlossen, und in den nächsten Tagen oder Wochen wird der Termin für die Hauptverhandlung festgesetzt.
Joseph Spring in Melbourne, der sehr dringend eine Hüftoperation bräuchte, ist unüberredbar entschlossen, erst nach der Verhandlung ins Spital zu gehen. Der lügenhafte Umgang der Schweizer Regierung mit seinem Fall hat ihn darin noch bestärkt. Er wird nach Lausanne kommen und seine Aussage machen. Ob ihm dann jemand glaubhaft erklären kann, warum es 1943 rechtens war, zwei Jugendliche und einen Kranken in den nahezu sicheren Tod zu jagen? Oder warum die schweizerischen Vergehen und Verbrechen jener Jahre in den USA zwar die Opfer zu Zahlungen der Schweizer Banken berechtigen, in der Schweiz jedoch einfach verjährt sein sollen.