Zum Bundesgerichtsurteil: Verpasste Chance als neue Chance

Das Bundesgericht lehnte Joseph Springs Entschädigungsklage ab. Gleichzeitig sprach es ihm 100 000 Franken Prozessspesen zu.

Beihilfe zum Völkermord: Die beim Schweizerischen Bundesgericht eingereichte Klage gegen die Eidgenossenschaft tönt aggressiv. Aber wie will man das, was Joseph Spring im November 1943 in La Cure im Waadtländer Jura erlebte, anders bezeichnen? Er wurde an Nazi-Deutschland ausgeliefert und als Jude denunziert. Die Schweizer Grenzbeamten wussten, was sie taten, und die Behörden kannten die Folgen ihrer antisemitischen Politik. Die beiden Cousins, die Spring begleiteten und die mit ihm deportiert wurden, sind kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast worden. Junge Menschen, 14- und 21-jährig, die ihr Leben noch vor sich hatten. Joseph Spring, damals gut sechzehn Jahre alt, überlebte den Horror.

Moral und Recht

Seine Geschichte ist in dieser Zeitung mehrmals geschildert worden. Er erzählte sie in Lausanne eindrücklich und sachlich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das bundesrichterliche Gremium nach ähnlichen Erfahrungen im eigenen Leben wohl geredet hätte. Wären dann Sätze, wonach alles mit rechten Dingen zugegangen sei, auch so locker über die Lippen gerutscht? Nach dieser Logik war der Flüchtlingsbegriff zwar ziemlich eng, aber die Behörden haben es nur gut gemeint. Sie mussten in einer extremen Notlage für das Wohl des Landes sorgen. Das hätten eigentlich auch die Flüchtlinge, die ausgerechnet in die Schweiz fliehen wollten, merken müssen, speziell jene, die aus Rassegründen verfolgt und leider Gottes abgewiesen wurden.
In Gedanken sah ich dann die adrette junge Dame, die sich als Chefin des Rechtsdienstes des Eidgenössischen Finanzdepartements ausgab, eingepfercht in einem mit Menschen voll gestopften Viehwagen. Der Transport dauerte fünf oder sechs Tage, ohne Nahrung und Wasser. Links und rechts wurden Männer und Frauen ohnmächtig oder sackten tot zusammen. Was darauf folgte, nämlich der Gang ins KZ, bleibe in der vorliegenden Schilderung ausgeklammert. Ich frage mich, ob die Dame im Rückblick auf ein solches Erlebnis nach wie vor munter verkünden könnte, das sei alter Plunder, längst verwirkt und verjährt. Und überhaupt hätten die reizenden Menschen, die ihr den Transport einbrockten, exakt nach fremdenpolizeilichen Weisungen gehandelt. Von Beihilfe zu einem Verbrechen keine Spur. Es gehe hier ausschliesslich um rechtliche Fragen. Moral sei eine andere Sache.
Wie soll man über Ereignisse, die mit Auschwitz zusammenhängen, rechtlich urteilen? Die Zweite öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hätte die Möglichkeit gehabt, Klartext zu sprechen. Die Chance wurde vertan. Vor dem Hintergrund dessen, was sich 1943 an der Grenze und als Folge davon in Konzentrationslagern und auf Todesmärschen abgespielt hatte, waren die Verhandlungen über weite Strecken eine Zumutung. Die Fragen, um die es ging, wurden mit juristischen Kniffen in einen toten Winkel gerückt. Das wiederholt geäusserte Mitgefühl für das unermessliche Leid, das Joseph Spring zugefügt wurde, wirkte obszön.

Die wirklichen Fragen

Ein Lichtblick in der Trübsal war das Votum des Abteilungspräsidenten Alain Wurzburger. Mit dem Antrag auf Gutheissung der Klage war er allein auf weiter Flur. In seiner Sicht standen die Weisungen vom Dezember 1942, wonach Flüchtlinge aus Rassegründen nicht als echte Flüchtlinge zu gelten hatten, im Widerspruch zum Diskriminierungs- und Willkürverbot. Sie stellten eine Fortsetzung nationalsozialistischer Rassengesetze dar. Schuldhaft war ferner die Auslieferung der jungen Flüchtlinge an die Deutschen. Denn trotz rigoroser Bestimmungen gab es für die Grenzorgane einen gewissen Ermessensspielraum, der in anderen Regionen der Schweiz zugunsten der Verfolgten ausgelegt wurde. Vollends indiskutabel war die Denunziation an der Grenze von La Cure.
Diese Argumentation bewegte sich nicht bloss auf dem Niveau der Ergebnisse des Bergier-Berichts, sondern – und das sollte heute besonders beachtet werden – auch auf der Ebene jener Kräfte, die bereits in der Kriegszeit Recht für die Verfolgten gefordert hatten. Zu denken ist an die jungen Menschen, die Ende August 1942 scharf opponierten, als Bundesrat Eduard von Steiger seine Theorie vom vollen Rettungsboot vortrug. Etwa zur gleichen Zeit forderte Gertrud Kurz den gleichen Bundesrat auf, seine ummenschliche Politik zu ändern. Willy Bretscher, Albert Oeri, Ernst Schürch und andere Redaktoren warnten vor einer weiteren Anbiederung ans Dritte Reich. Viele Menschen erhoben ihre Stimme, sie erkannten, dass «Unrecht» geschah.
Es ist ein Jammer, dass die Überlegungen des Präsidenten in den Beratungen des Gerichtes kaum Widerhall fanden. Gleiches gilt vom ausgezeichneten Plädoyer Paul Rechsteiners, Anwalt von Joseph Spring. Er betonte den exemplarischen Charakter des Prozesses: Wenn «es die Schweiz auszeichnet, auch in der dunklen Zeit des Zweiten Weltkrieges nicht zur faschistischen Diktatur geworden zu sein, dann darf es nicht sein, dass diese Schweiz in einer bestimmten Phase eine Gruppe von Menschen als absolut rechtlos behandeln durfte». Zu diesen Entrechteten gehörte Spring. Die Einrede der Verwirkung nütze niemandem: «Es kann keinen Freibrief auf Vergessen geben für etwas, das nie hätte geschehen dürfen.» Mit der restriktiven Flüchtlingspolitik habe unser Land die Verfolgung der Juden nicht bloss passiv hingenommen, sondern aktiv gefördert.

Offizielle Berührungsängste

Mit vier gegen eine Stimme wies das Bundesgericht die Klage von Joseph Spring ab. Mit drei gegen zwei Stimmen wurde dem Kläger indessen die Summe von 100 000 Franken, die er als Genugtuung gefordert hatte, als Parteientschädigung zugesprochen. Ein seltsames Urteil, das den gegenwärtigen Stand der offiziellen Vergangenheitsdiskussion exakt spiegelt. Den Auftakt machte Kaspar Villiger am 7. Mai 1995 mit einer Rede vor der Vereinigten Bundesversammlung. Fünfzig Jahre nach Kriegsende – das war der Anlass – äusserte ein Bundesrat endlich Kritisches zur Flüchtlingspoli- tik. Was damals geschehen sei, könne unter keinem Titel gerechtfertigt werden. Darauf folgte der interessante Satz: Wohl alle, die in jener Zeit Verantwortung trugen, hätten im Interesse des Landes, vielleicht im «allzu eng verstandenen» Interesse gehandelt.
Meines Wissens ist kein Verantwortlicher je zur Verantwortung gezogen worden. Bundesrat von Steiger konnte noch 1957 im Anhang zum Ludwig-Bericht über die Flüchtlingspolitik die Lüge verbreiten, wenn man damals gewusst hätte, was im Reich vor sich ging, hätte man anders gehandelt. Er und viele Beamte haben nachweisbar gewusst, was geschah. Sie sind in Ehren alt geworden. Das was nie hätte geschehen dürfen und trotzdem geschah, wurde weder 1995 noch in der bundesrätlichen Erklärung vom 10. Dezember 1999 zum Bergier-Bericht klar beim Namen genannt. Man verbeugte sich rhetorisch tief ergriffen vor den Opfern, schob aber die Frage nach den Verantwortlichen diskret beiseite. Der Lausanner Prozess folgte diesem Muster. Joseph Spring suchte Gerechtigkeit, das heisst «Anerkennung, dass an mir ein Verbrechen begangen wurde» – so lautete der letzte Satz seiner Erklärung vor Gericht. Er erhielt schöne Worte und eine Entschädigung.
Die Berührungsängste der offiziellen Schweiz gegenüber der Kriegsvergangenheit sind noch lange nicht abgebaut. In diesem Zusammenhang darf auch das, was sich vor dem Prozess abspielte, nicht vergessen werden. Am 23. Juni 1998 lehnte der Bundesrat ein Schadenersatzbegehren von Joseph Spring in der Höhe von 100 000 Franken ab, dies mit vier (Cotti, Koller, Ogi, Villiger) gegen drei Stimmen (Dreifuss, Leuenberger, Couchepin). Die anschliessend am 13. Juli 1998 beim Bundesgericht eingereichte Klage betreff Staatshaftung war von Anfang an massiven Störmanövern durch das Eidgenössische Finanzdepartement ausgesetzt. So wurde zum Beispiel die Glaubwürdigkeit des Klägers mit unhaltbaren Behauptungen in Zweifel gezogen. Ein Exposé des Bundesarchivs, das das gleiche Departement in Auftrag gegeben hatte und das in allen wesentlichen Punkten die Aussagen Springs bestätigte, wurde – allerdings erfolglos – unterschlagen. Es ist der Hartnäckigkeit von Joseph Spring, Paul Rechsteiner und Stefan Keller zu danken, dass der Prozess trotz allem zustande kam.
Für Spring ist das Ergebnis eine Enttäuschung. Doch auf dem Weg zur Klärung der Kriegsvergangenheit sind wir ein gutes Stück weitergekommen, nicht durch das Urteil selber, sondern durch die Auseinandersetzung mit dem Urteil und mit dem Prozess. Die dumpfen Räume, wo sich Heucheleien und faule Ausreden breit machten, werden langsam, aber sicher aufgehellt. Die verpasste Chance ist eine neue Chance.