Die Folterspur der US-Armee: Das Elixier der Macht

Während Demokratie und Rechtsstaat erodieren, hält sich die US-Regierung an ihr bekanntes und bisher bewährtes Krisenmanagement.

Desillusionierung ist in den selbstbewussten und hoffnungsfrohen USA ein besonders hartes und undankbares Geschäft. Erfolgsbewusste Politiker meiden sie wie der Teufel das Weihwasser, und auch die grossen Medien gehen der Kritik am Mythos Amerika so lange wie möglich aus dem Weg. Sogar wenn sie einen so klassischen Sex-and-Crime-Knüller anzubieten haben wie jüngst die Sadoszenen aus dem irakischen Gefangenenlager Abu Ghraib. Zwei Wochen lang hat der Fernsehsender CBS auf direktes Geheiss der US-Armeeführung das skandalöse Material zurückgehalten, bis die weltbewegenden Bilder am 28. April ausgestrahlt wurden.

Seither berichten die US-Medien über pikante Details der Gefangenenmissbräuche durch US-SoldatInnen, über angebliche Unklarheiten in der Befehlshierarchie des US-Militärs und über die Zuständigkeitsprobleme des traditionellen US-Rechtssystems angesichts einer immer undurchschaubareren Offshorejustiz: Zu den Inseln der Rechtlosigkeit gehört neben Abu Ghraib auch der US-Stützpunkt Guantánamo, wo rund 600 «feindliche Kämpfer» inhaftiert sind, und das Gefangenenlager der US-Streitkräfte im afghanischen Bagram. Hinzu kommt der Einsatz von Mitarbeitern der privaten US-Sicherheitsfirmen CACI und Titan, welche nicht dem Militärstrafrecht unterstehen.

Die Medienberichterstattung begann so weit korrekt, aber ziemlich unpolitisch. Wenn nur die Demokraten als Oppositionspartei das Folterthema gross aufgreifen würden, seufzt der etablierte Journalist. Und die demokratische Partei, allen voran der übervorsichtige John Kerry, hofft auf die Neugier der Presse. Reflexartig lobt der Präsidentschaftskandidat angesichts des drohenden Desasters «die hervorragend gute Arbeit, die tausende von SoldatInnen jeden Tag im Irak leisten».

Bei allem Respekt vor der Einsatzbereitschaft der einzelnen Armeeangehörigen: Wie hervorragend ist eine Besatzungsmacht, unter der allein im April rund 1200 Menschen durch Waffengewalt umkamen – zu zehn Prozent BeschützerInnen, zu neunzig Prozent zu Beschützende? Wie gut ist eine Militärverwaltung, die zwischen zehn- und sechzehntausend mehr oder weniger zufällig verhaftete Menschen gefangen hält, ohne Anklage und ohne Zugang zu Anwälten oder Angehörigen, ausgeliefert der bisweilen tödlichen Willkür von überforderten MilitärpolizistInnen sowie hart gesottenen Privatsöldnern und Verhörspezialisten des CIA? Wieso, Mr. Kerry, haben Sie keine Zeit, kein Geld und kein Interesse, um die Erosion der moralischen und rechtsstaatlichen Standards der USA in ihrem Krieg gegen den Terror entschieden zu kritisieren? Wieso stecken Sie stattdessen 27,5 Millionen Dollar in eine egozentrische TV-Werbekampagne, die einmal mehr Ihre eigene Kindheit, Vietnamzeit und Senatsjahre glorifiziert? – Ach so, das gehört zu Ihrer viel gerühmten «electability», Ihrer Wählbarkeit.

Die amtierende Regierung Bush ihrerseits hält sich an ihr bekanntes und bisher bewährtes Krisenmanagement: Erst mal alles verheimlichen und vertuschen; dann so viel wie möglich abstreiten; unter Druck allenfalls zugeben, dass es eine Hand voll bedauerliche Einzelfälle, Einzelfehler gegeben hat; abschliessend grösstmögliche Distanzierung und exemplarische Bestrafung von ausgewählten Sündenböcken (bisher ist gegen sechs SoldatInnen Anklage erhoben worden, gegen vier weitere wird ermittelt, sechs Offiziere wurden scharf gerügt). Sogar das letzte Mittel, der pompöse Fernsehauftritt des Präsidenten selbst, wird diesmal zur Schadensbegrenzung eingesetzt. «Unamerikanisch» nannte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am Dienstag die sadistische Behandlung der Gefangenen in Abu Ghraib – ohne bisher einen der seit letzten Sommer erstellten Berichte über die Verbreitung und Systematik solcher Vorfälle zur Kenntnis genommen zu haben.

Zur Beruhigung der Bevölkerung und des aus der patriotischen Starre erwachenden Kongresses sind mittlerweile zig neue militärische Untersuchungen der Missstände im Gang. Versprochen wird ausserdem ein besseres Training der Militärpolizei, eine Erhöhung des Personalbestandes in den Gefängnissen im Irak und in Afghanistan. Hilfloses Flickwerk also und keine echte Reform des nach Meinung der inkriminierten Gefängnisleiterin Brigadiergeneral Janis Karpinski «völlig kaputten Inhaftierungssystems». Neuer Chef des Gefängniswesens der US-amerikanischen Besatzung im Irak wird ausgerechnet General Geoffrey Miller, ehemaliger Führer des berüchtigten Camp X-Ray in Guantánamo, der Abu Ghraib schon im Spätherbst besucht und dessen «Guantanamoisierung» angekündigt hat. Neu will er die Kapuzen der Gefangenen durch Augenbinden ersetzen.

Es ist wieder der legendäre Recherchierjournalist Seymour Hersh, der schon das My-Lai-Massaker von 1968 in Vietnam aufgedeckt hatte, der als Erster und sehr deutlich darauf hinweist, dass die Folterungen und Demütigungen in Abu Ghraib, die routinemässige Verletzung der Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen, keine Verirrung von sadistischen Einzelpersonen war. Seine Hauptquelle ist ein 53-seitiger interner Bericht von General Antonio Taguba, fertig gestellt im Februar dieses Jahres. Hersh schreibt im Magazin «The New Yorker»: «Tagubas Report kommt einer schonungslosen Offenlegung von kollektivem Fehlverhalten und dem Versagen der Armeeführung auf höchster Ebene gleich. Die Befragung von Gefangenen und das Sammeln von Informationen, inklusive Einschüchterung und Folter, hatte Priorität.»

Zwei pensionierte hohe Armeerichter haben gegenüber der US-Presse bestätigt, dass Gefangenenlager wie die in Abu Ghraib und Bagram vorab als Verhörzentren dienen. Und während es US-Befragern verboten ist, den Gefangenen direkt Schmerzen zuzufügen, dürfen sie den Willen mit «moderaten Unannehmlichkeiten» («moderate discomfort») brechen. Zu dieser Grauzone der «Folter light» gehören Furcht, Scham, Desorientierung, Erschöpfung und körperliche Belastungen – Techniken, welche die Verhörspezialisten aus den USA (in Vietnam) und Britannien (in Nordirland) als «humane Alternative» zu den Foltermethoden etwa eines Saddam Hussein entwickelt haben.

Ein weiterer My-Lai-Veteran, der damalige Militärverteidiger Gary Myers, hat die Verteidigung eines der wegen Gefangenenmissbrauchs angeklagten Reservisten übernommen. Wenn man aus einem unbedeutenden Kaff in Virginia komme, könne einen das Elixier der Macht schon berauschen, sagt Myers über seinen subalternen Klienten Sergeant «Chip» Frederick. Aber er werde zeigen, wer in Abu Ghraib wirklich das Sagen hatte, wer die Befehle gab, die Foltermethoden ausarbeitete, die Schuld (mit)trägt. «Ich werde jeden einzelnen beteiligten Geheimdienstoffizier und jeden zivilen Kontraktor, den ich finden kann, vor Gericht ziehen», verspricht Myers.

Vielleicht bringen die anstehenden Untersuchungen und Gerichtsverfahren in den USA endlich eine breitere gesellschaftliche Diskussion über den präventiven Abbau des demokratischen Rechtsstaates im Namen des Kriegs gegen den Terror. Nötig wäre es, wenn schon ein ehemals liberaler Menschenrechtsspezialist wie Michael Ignatieff meint, die Politik der zeitlich unbeschränkten Inhaftierung von Verdächtigen, der Zwangsbefragungen, der gezielten Hinrichtungen oder auch der Präventivkriege sei das «kleinere Übel».