Die USA im Ausnahmezustand (7/Ende): Eine Demokratie unter Kontrolle

Weiss und Schwarz – der Triumph der neuen Herren.

Dieser Staat ist faschistisch», ruft mein Gesprächspartner S. ziemlich laut in das geschäftige Treiben der Schulmensa hinein. Ich zucke zusammen. Auf den ersten Blick personifiziert S. den American Dream: ein sympathischer Mittelschullehrer um die vierzig in Hemd und Krawatte; Nickelbrille, kurzes Haar, bestimmtes Auftreten. Verheiratet mit der Schulkrankenschwester, zwei Töchter; in der Freizeit betreut das Paar die beiden Mädchen-Fussballteams der lokalen Highschool. Ich habe mich mit S. getroffen, um über seine geschichtliche Dissertation zu Multikulturalismus und Demokratie in den USA zu diskutieren, und wir sind unsanft in der Gegenwart gelandet. Doch nun tritt der ewig muntere Coach der studentischen Leichtathletikgruppe an unseren Tisch. Er berichtet dem jüngeren Kollegen begeistert von den sportlichen Höhepunkten des letzten Treffens, bevor er mit überschwappendem Kaffeebecher in der Hand weitereilt. Ich warte einen Moment, bevor ich wiederhole: faschistisch? «Ja», sagt S., «die USA sind heute faschistisch im klassischen Sinn: ein Staat unter der Herrschaft des Militärs und der Plutokratie.»

Vor dreissig Jahren hat ein amerikanischer Topmanager 39-mal so viel verdient wie ein gewöhnlicher Arbeiter, nämlich 1,3 Millionen Dollar. Heute verdient er gut 1000-mal so viel (37,5 Millionen). Diese Diskrepanz hat vor allem in jüngster Zeit und vor allem ganz oben zugenommen, sagen wir bei den 0,01 Prozent der Superreichen: Diese 13 000 Familien in den USA verdienen heute gleich viel wie die 20 Millionen ärmsten Haushalte. Das reichste Prozent der AmerikanerInnen verfügt über 16 Prozent der gesamten Einkommen in den USA, ein doppelt so hoher Anteil wie vor dreissig Jahren. Das ist genauso viel, wie die untersten 40 Prozent der Bevölkerung zusammengenommen erhalten. Bei diesen Beträgen handelt es sich nicht mehr um ökonomisch vernachlässigbare Grössen, so genannte «Peanuts», sondern um volkswirtschaftlich bedeutsame Werte. Die USA haben darum eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt, weil die Reichsten hier reicher sind als anderswo.

Der international bekannte US-Ökonom und Publizist Paul Krugman vergleicht die heutige Situation mit dem ökonomischen Raubrittertum der USA des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. «Wir leben in einem neuen Gilded Age» – einem «vergoldeten Zeitalter» des Grosskapitalismus –, «das ebenso extravagant ist wie das Original. Die Schlossherren kehren zurück», schreibt Krugman im «New York Times Magazine» vom 20. Oktober. Sein Text ist eingeklemmt zwischen Inseraten für Luxusgüter und Gefälligkeitsreportagen aus der Designerwelt und direkt integriert in eine 50-seitige Werbebeilage für exklusive Liegenschaften in aller Welt. – Die wenigsten Leute in den USA wissen, wie schnell und wie sehr sich der Abstand zwischen Reich und Arm vergrössert hat. Wer es wagt, auf den Tatbestand hinzuweisen, wird als Klassenkämpfer, Neidhammel oder allgemeiner Miesmacher abgestempelt, eine einfältige, aber offenbar äusserst erfolgreiche Strategie. Krugman hat im Verlauf seiner Karriere als Professor am MIT in Boston oder vorher als Wirtschaftsberater unter Präsident Ronald Reagan erfahren: «Wenn die Reichen reicher werden, können sie sich weit mehr als nur Waren und Dienstleistungen kaufen. Geld kauft politische Macht; clever eingesetzt erwirbt es auch intellektuellen Einfluss.» Aufgrund dieses Teufelskreises resultierten die wachsenden Einkommensunterschiede in den USA nicht in der Forderung nach Umverteilung, sondern führten zu einer extremen Polarisierung der Politik beziehungsweise zum allgemeinen Rechtsrutsch und schliesslich zum Triumph der Geldherrschaft in einer bedeutungslos gewordenen, bloss noch formalen Demokratie.

Bereits heute verzichtet die wirtschaftliche und politische Elite in den USA weitgehend darauf, auch nur den Schein von Mässigung zu wahren. «Wir haben Geschichte gemacht», verkündete der Pressesprecher des Präsidenten nach dem Sitzgewinn der Republikaner bei den Halbzeit-Wahlen. Exekutive, Legislative und bald auch die Justiz unter republikanischer Kontrolle – die Stimmung unter den US-Unternehmern und ihren politischen Freunden ist optimistisch bis ausgelassen. «Bühne frei für unsere Offensive!», ruft der Präsident der Industriellenvereinigung National Association of Manufacturers. Ein Lobbyist aus der rechten Denkfabrik Heritage Foundation präzisiert: «Wir erleben das innenpolitische Äquivalent zur Planung eines Nachkriegs-Irak.» – «Das ist das nackte Imperium», urteilen die Redaktoren des linken Magazins «Progressive». Und der 85-jährige Robert Byrd aus Virginia, einer der wenigen demokratischen Senatoren, die offen gegen die Irak-Politik der Bush-Regierung Stellung bezogen, meint bissig, der amerikanische Präsident stehe heute dort, «wo Könige immer gestanden haben». Ein vernichtendes Urteil für die auf ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone so stolzen AmerikanerInnen – wie wenn einer in der Schweiz den Tell zum Gessler machte oder die Bundesräte zu Habsburgern.

Tatsächlich wird im Weissen Haus lobbyiert und intrigiert wie an jedem ordentlichen Königshof. Der abtretende Chef der nationalen Steuerbehörde IRS beklagt sich, dass er vor allem gegen die reichsten und raffiniertesten Steuerbetrüger keine Chance habe beziehungsweise von der Bush-Regierung keine Chance bekomme. Bei der Wahl eines neuen Mitgliedes der Wirtschaftsaufsichtskommission SEC haben die Republikaner erst den von den Demokraten vorgeschlagenen Kandidaten als «zu aggressiv» abgelehnt und dann den Bock zum Gärtner machen wollen: Ihr Mann, ein ehemaliger FBI- und CIA-Direktor, war selber in Betrügereien und Konkurse verwickelt, was leider noch rechtzeitig publik wurde und deshalb ein paar Rücktritte kostete. In der Herbstsession hatte ein republikanischer Senator ein Gesetz gegen Steuerflucht als «nazideutsch» abgelehnt. Ein forscher junger Steuerexperte aus Georgia suchte ihn rhetorisch noch zu übertrumpfen und verglich die Einforderung von entgangenen Steuergeldern mit dem infamen Entscheid des Obersten US-Gerichtshofes aus dem Jahr 1857, der von den freien Nordstaaten die Rückgabe von entlaufenen Sklaven an ihre Herren verlangt hatte.

«Die Scham ist vorbei», wie ein mittelprächtiger feministischer Bestseller in den siebziger Jahren programmatisch verkündete. Der Wirtschaftsspezialist Paul Krugman sieht tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der heutigen und der damaligen Liberalisierung: «Die Explosion der Managergehälter repräsentiert eher einen gesellschaftlichen Wandel als die rein ökonomischen Kräfte von Angebot und Nachfrage. Die Bonusinflation ist kein Markttrend wie etwa der steigende Wert einer Liegenschaft mit Seeanstoss, sondern eher so etwas wie die sexuelle Revolution der sechziger Jahre – eine Lockerung alter Strukturen, eine neue Permissivität, in diesem Fall eben finanzieller Art.» Globalisierung und Technologieschübe bestimmten die Löhne weit weniger, als das Ökonomen im Allgemeinen und speziell Apologeten des freien Marktes wahrhaben wollten. Insbesondere die Spitzengehälter würden vorab durch gesellschaftliche Normen determiniert.

Doch welche Normen vertritt die grösste westliche Demokratie? Sind die USA im Kern egalitär, und jeder Mensch hat ein unveräusserliches Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück, wie das in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 steht? Oder führt genau diese Grundstruktur der Gesellschaft, der «freie» Überlebenskampf der Individuen, unweigerlich zur Herrschaft einiger weniger? Ist die Geschichte der USA eine Geschichte des Fortschritts, worin der New Deal und die Bürgerrechtsbewegungen der sechziger Jahre die bisher idealste Realisierung der Verfassungsgrundsätze darstellen? Oder sind diese Jahrzehnte des imageprägenden Mittelklasse-Amerika, 1930 bis 1970, bloss ein kurzes Interregnum zwischen «Gilded Ages», wie Mark Twain den zügellosen Kapitalismus bereits 1873 genannt hatte?

«Trotz allen Fehlern und Irrtümern war unser Land stets das herausragendste Symbol für Freiheit, Nächstenliebe, Hoffnung und Zuwendung. Das wird auch so bleiben. Wer Beweise braucht, öffne bloss alle Grenzen dieser Erde und warte ab, was passiert. Innerhalb eines halben Tages wird die ganze Welt eine Geisterstadt sein, und vor den USA wird man Schlange stehen wie vor dem Broadway-Hit 'The Producers' (...). Lasst die Relativisten mit ihrem unmoralischen Denken nicht ungeschoren davonkommen. Was immer der Politologieprofessor Ihrer Tochter sagt, wir haben diese Sache nicht angefangen.» Diese Passage des rechtspopulistischen Kabarettisten Larry Miller aus dem konservativen «Weekly Standard» war in den USA plötzlich überall rechts der Mitte anzutreffen: in Kirchenbulletins, auf Schulaufgabenblättern, auf zionistischen Websites, in neonazistischen Pamphleten. Der Starkolumnist Thomas Friedman war es schliesslich, der den intellektuellenfeindlichen Gemeinplätzen die höhere Weihe der «New York Times» verlieh. Er erklärte Miller zur obligatorischen Lektüre für den Jahrestag zum 11. September.

Vor ein paar Tagen doppelte Friedman mit einer Kolumne zum «amerikanischen Ideal» nach: Er ermahnte das Bush-Team, nicht ausschliesslich als pessimistische Zyniker und Machtpolitiker aufzutreten, sondern vermehrt wieder den amerikanischen Optimismus, die «Waffe der Massenattraktion», einzusetzen. Wie das Beispiel des Kalten Krieges zeige, vermöge erst die Kombination von harten und weichen Qualitäten die Welt zu gewinnen. Friedman: «Die sanfte Macht, die von den Technologien, den Universitäten, den Disney-Worlds und der Unabhängigkeitserklärung ausgeht, die Überzeugung, dass die Zukunft die Vergangenheit besiegen kann, das sind immense Quellen von amerikanischer Stärke und Anziehungskraft.»

Das tönt so feierlich wie die Predigt in der Kirche. Und tatsächlich gleicht die Politik der Vereinigten Staaten in vielem einer Zivilreligion. Das hat der französische Amerikabesucher Alexis de Tocqueville schon vor 170 Jahren festgestellt, ich weiss. Aber warum zum Teufel ist das heute noch so? Ungeachtet aller Säkularisierungsschübe in der übrigen westlichen Welt waltet in den USA ein Präsident als Hohepriester, gilt die Verfassung als heilige Schrift. Und die US-Flagge als Tuch gewordenes höchstes Wesen fehlt in keinem Gotteshaus oder öffentlichen Raum. Auch der obligate Ablasshandel ist in vollem Gang, und die Grossunternehmen der Moderne zeigen erstaunliches Geschick in dieser mittelalterlichen Kunst.

Unter der strengen Oberaufsicht der Stellvertreter des Kapitalismus auf Erden hat sich die in einem bestimmten historischen Kontext entstandene Staatsform längst zum unfehlbaren Dogma verhärtet. Dabei weisen namhafte Demokratietheoretiker auf offensichtliche Mängel der US-Verfassung hin: zu viel Macht für den Präsidenten und die Gerichtshöfe, zu wenig für Volk und Parlament; ein Ständesystem, das einige bevölkerungsarme Gliedstaaten unverhältnismässig gewichtet – würden die 12 Prozent AfroamerikanerInnen ebenso bevorzugt wie die Einwohner aus Kleinstaaten wie Rhode Island, Delaware oder Vermont, so besetzten sie 46 der 100 Senatssitze statt null wie bisher. Der Wahlmodus in den USA ist kompliziert, und er berücksichtigt stets nur den politischen Willen einzelner Bezirke, nicht der Mehrheit der AmerikanerInnen; in diesem November etwa gewannen die Republikaner die Mehrheit im Senat mit einer Mehrheit von insgesamt bloss 22 000 Stimmen. Die USA kennen, anders als die grosse Mehrheit der Demokratien, keinerlei proportionale Vertretung, der Sieger schnappt sich alles, das verstärkt die simplizistische Schwarzweiss-Argumentation. Doch ausserhalb dieser engen, gewissermassen ziviltheologischen Fachkreise ist die Verfassung eine göttliche Offenbarung und als solche gegen menschliche Kritik immun.

Wie jedes Glaubensbekenntnis vermittelt auch das amerikanische Credo (The American Creed) zwischen Himmel und Erde. Es versöhnt Prinzip und Praxis, hält die Gemeinde zusammen – und schliesst Ketzer und Ungläubige, übereifrige Pantheistinnen, Befreiungstheologen und dergleichen aus. «Es ist immer die gleiche Leidensgeschichte mit diesem Land», seufzt der eingangs erwähnte Geschichtslehrer S., «erst anerkennen wir die Gebote - zum Beispiel die Gleichheit aller Menschen –, dann fallen wir vom Glauben ab und brauchen messianische Figuren, die uns zurückführen. Diese Propheten bringen wir dann um wie John F. Kennedy oder Martin Luther King. Und sind daraufhin so klug als wie zuvor.» Reformkräfte haben es in der Tat nicht leicht in diesem monotheistischen Umfeld, dessen Offenbarung aber die Anziehungskraft gerade für benachteiligte Minderheiten bis heute nicht eingebüsst hat.

Im Zeitalter der Globalisierung bedrohen jedoch neue Entwicklungen die etablierte US-Politkirche und – paradoxerweise – vorab ihren festen Zukunftsglauben. Der ehemals liberale Historiker Arthur Schlesinger jr., der noch diesen Herbst einen Aufruf gegen Bushs Irak-Politik mitunterzeichnete, hat vor zehn Jahren, als die so genannten «cultural wars» in den USA auf dem Höhenpunkt waren, den Gefahren der Glaubensspaltung durch Multikulturalismus eine erstaunlich konservative und ideologisch voreingenommene Aufsatzsammlung gewidmet. In diesem Buch, «Disuniting America», legt der Autor ungewollt die Grenzen und Schwächen des Amerika-Ideals bloss, das diese Gesellschaft bis heute massgeblich lenkt und leitet. Drei Beispiele:

• Der Schmelztiegel Amerika. Die integrative Kraft des Immigrationslandes übte zwei Jahrhunderte lang eine grosse Anziehungskraft aus. Melting Pot, Schmelztiegel der Nationen, Hafen aller Verfolgten, Volk aus einem Guss, edle Legierung, neue Rasse – Philosophen und Politiker aus der Alten und Neuen Welt übertrafen sich mit begeisterten und gewagten Metaphern der Vereinigung (natürlich bloss der weissen Neusiedler). Diese Amerikanisierung setzte die Individualisierung der Einwandernden voraus. Präsident John Quincy Adams verlangte schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts: «Immigranten müssen ihre europäische Haut für immer abwerfen.» Im Ersten Weltkrieg wandte sich Woodrow Wilson an Neueingebürgerte: «Ihr könnt keine richtigen Amerikaner werden, wenn ihr in Gruppen denkt. Amerika besteht nicht aus Gruppen. Wer sich als Angehöriger einer nationalen Gruppe in Amerika versteht, ist noch kein Amerikaner geworden.» Kollege Theodore Roosevelt sagt es zwei Jahre später noch schärfer: «Entweder ist einer Amerikaner und sonst gar nichts, oder er ist überhaupt kein Amerikaner.» Auch Schlesinger verteidigt diese Nation der EinzelgängerInnen gegen alte und neue Gruppeninteressen. Sowohl ethnische wie rassische wie ökonomische Definitionen und Organisationen bremsten die Assimilation der Einzelnen und gefährdeten letztlich den Zusammenhalt der Nation. «Amerika ist ein Schmelztiegel und kein Turm zu Babel», sagt der Historiker – genau dieses prinzipielle Misstrauen gegenüber jedweder gesellschaftlichen Organisierung erstickt in meinem amerikanischen Bekanntenkreis die politische Diskussion sehr oft in ihrem individualistischen Kern. Grosszügig übersehen Schlesinger und seine Anhänger in ihrer harschen Kritik des «kompensatorischen Ethniekultes» von Minderheiten oder des «Partikularinteresses» von Gewerkschaften die mächtigste und exklusivste und selbstverständlichste Interessengruppe der USA: die Clans der reichen weissen Männer.
• Blick nach vorn. «Die Vergangenheit ist das Textbuch der Tyrannen; die Zukunft die Bibel des freien Mannes», schrieb der US-Schriftsteller Herman Melville im Pathos des frühen 19. Jahrhunderts. Die ersten europäischen Siedler wollten weg von der alten Welt mit ihren Vorurteilen und ihrer religiösen Intoleranz, wollten einen Neuanfang, gerechte Regierungsprinzipien, eine hoffnungsvolle kulturelle Identität, wollten Amerikaner werden – und schleppten, wie wir heute sehen, doch einiges an alten Gewohnheiten und Vorurteilen mit. Dass die weisse angelsächsische protestantische Tradition zwei Jahrhunderte lang den neu entstehenden US-Kulturraum dominierte – und noch immer prägt –, gibt auch der Geschichtsprofessor Schlesinger zu: «Diese Tradition gab den Standard ab, an den andere Immigrantennationen sich anzupassen hatten, die Matrix für deren Assimilation.» Trotzdem, behauptet er, sei das amerikanische Credo für Minderheiten aus Asien, Afrika, Lateinamerika attraktiv geblieben, denn Europa sei die Quelle, «die einzige Quelle» von aufgeklärten Ideen wie Menschenrechten, kultureller Liberalität und politischer Demokratie. Kein Wort davon, dass diese These seit einiger Zeit global diskutiert und infrage gestellt wird. Aber auch das zweite Standbein der Hoffnung, ja des blinden Vertrauens in die Zukunft schwankt: die Aussicht auf Aufstieg und Erfolg. Denn die amerikanische Mittelklasse wird dünn. Die ökonomische Situation der Mehrheit der AfroamerikanerInnen hat sich – daran vermögen schwarze Superstars in Sport und Musik nichts zu ändern – seit Beginn der Reaganomics verschlechtert. Die gesamte US-Wirtschaft stagniert. Was kommt, ist ungewiss. Und mancher wirft nun einen Blick zurück auf das, was war. Andere starren umso entschiedener in die Zukunft; in diesem Herbst hat Bushs Partei nirgends so viele Stimmen gemacht wie in schnell wachsenden Vorstädten, den «frontiers» der gegenwärtigen sozialen Mobilität.
• Neugeburt einer Nation. Noch habe die Amerikanisierung ihren Charme nicht verloren, behauptet Schlesinger. Noch würden sozial aufsteigende Söhne und Töchter gern ihre Ethnizität abwerfen, um in die besseren Einfamilienhausquartiere der Suburbs zu ziehen. Das amerikanische Credo verlangt von den Gläubigen nämlich nicht bloss, dass sie friedlich zusammenleben, sondern zusammenschmelzen, eins werden, neu geboren. Praktisch alle grossen patriarchalischen Religionen kennen Initiationsriten, bei denen die natürliche Geburt von der Mutter durch eine spirituelle Geburt vom Vater veredelt werden muss. Und im Gegensatz zum ersten ziemlich anarchischen Eintritt in die Welt ist der zweite Schöpfungsakt, die Kopfgeburt, oft verbunden mit einem Unterwerfungsritual des Initianden unter die jeweilige Ordnung und einer Absage an frühere Bindungen und Loyalitäten. Man ist ein Amerikaner und sonst gar nichts – sofern man zur Taufe überhaupt zugelassen wird. Seit Beginn der US-amerikanischen Geschichte sind bestimmte Menschen von bestimmten Rechten prinzipiell ausgeschlossen worden: Erst waren es Frauen, Indianer, Sklaven; im 20. Jahrhundert abwechslungsweise rote, gelbe, braune, schwarze Menschen, die so genannten Bindestrich-Amerikaner; und heute noch verlieren viele Gefängnisinsassen ihre Bürgerrechte auf Lebenszeit.

1944 veröffentlichte der schwedische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Gunnar Myrdal die 1500-seitige Studie «Ein amerikanisches Dilemma: Das Negerproblem und die moderne Demokratie». Myrdal zeigte im Detail auf, wie weit das demokratische Ideal der Gleichheit und die Realität des Rassismus und der Segregation auseinander klafften, und hoffte damit den Reformdruck auf die weisse Elite zu erhöhen. Die Anekdote berichtet, dass Gunnar Myrdal im Lauf seiner Forschungen zusammen mit seinem afroamerikanischen Assistenten Ralph Bunche, einem späteren Uno-Mitarbeiter und Friedensnobelpreisträger, ein Gefängnis im Süden der USA besuchte. Am Mittag ass Myrdal mit dem weissen Gefängnispersonal, Bunche wurde mit den schwarzen Gefangenen verpflegt. Myrdal hoffte, dass solch offene Diskriminierung das Gewissen der Weissen wachrütteln würde. Bunche zweifelte an der Einsicht und Resozialisierungsfähigkeit der Gefängniswärter.

In den Nachkriegsjahren und nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung verbesserten sich die Lebensbedingungen der AfroamerikanerInnen erheblich; der wirtschaftliche Abstand verkleinerte sich, die Lebenserwartung stieg, der Bildungsgrad nahm zu. Aber seit Ende siebziger Jahre stagniert beziehungsweise verschlechtert sich ihre Situation wieder, ebenso ergeht es den hispanoamerikanischen Minderheiten, deren Armutsrate dreimal so hoch ist wie diejenige der weissen Amerikaner – sogar die Frauen verdienen heute wieder weniger als vor dem neoliberalen Backlash. Das ist keine besondere Überraschung, denn internationale Wirtschaftsstudien zeigen regelmässig, dass bei wachsenden Einkommensunterschieden auch die Diskriminierung nach rassistischen, sexistischen oder ethnischen Kriterien zunimmt. Die 85 Prozent Afroamerikaner und die 94 Prozent Afroamerikanerinnen, die bei der Präsidentschaftswahl 2000 gegen Bush gestimmt haben, wissen von dem Zusammenhang.

Die weissen AmerikanerInnen jedoch sehen ihren Rassismus, wenn überhaupt, lieber als individuell-moralisch denn als gesellschaftlich-strukturell bedingt. «Amerika besteht nicht aus Gruppen.» Präsident Bush umgibt sich gezielt mit braunen, schwarzen, gelben und weiblichen Mitarbeitern, zum Beweis dafür, dass der Schmelztiegel Amerika nicht sexistisch und rassistisch ist – und doch verschlechtert er die Rahmenbedingungen dieser Gruppen durch seine Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik mit jedem Tag. Gut möglich, dass Bush demnächst den ersten hispanischen Amerikaner in den Obersten Gerichtshof beruft, der dann den Weg frei macht für ein Abtreibungsverbot in den USA – eine Massnahme, die Immigrantinnen besonders hart treffen würde.

In der Diskussion über die Wiedergutmachung an Opfern des Holocaust waren die USA eine äusserst aktive und treibende Kraft; in den Verhandlungen mit südafrikanischen Apartheidopfern spielen US-Anwälte die Hauptrolle. Ihre eigene historische Schuld geht die Nation weit zögerlicher an. Die Diskussion über Reparationszahlungen an die Nachkommen von Opfern der Sklaverei kam erst in den letzten Jahren auf und hat den Weg in die breite Öffentlichkeit noch nicht gefunden. Bei Umfragen lehnt eine grosse Mehrheit der weissen Bevölkerung nicht bloss die Barzahlungen an AfroamerikanerInnen, sondern auch eine öffentliche Entschuldigung der Regierung ab. Und natürlich finden sich auch schwarze Konservative, die die Geschichte Geschichte sein lassen wollen, um den Status quo, ihren Status quo, zu sichern. «Wenn wir akzeptieren, dass Leute für die Taten der Vorfahren verantwortlich gemacht werden, dann führen wir ein Prinzip ein, das jede Gesellschaft entzweit, besonders eine multiethnische Gesellschaft wie die USA», sagt der afroamerikanische Ökonom Thomas Sowell. Und ein Kollege ergänzt: «Die Sklaven und ihre Besitzer sind alle tot. Welches moralische Prinzip rechtfertigt es, einen Weissen von heute dafür haftbar zu machen, was ein Weisser von gestern einem Schwarzen von gestern angetan hat?» Nur ja kein Blick zurück in die jüngere Vergangenheit, in der die neue Rasse Amerikas das «Textbuch der Tyrannen» diktierte.

Für eine wichtige Rede über die innere Sicherheit wählte Präsident Bush diesen Sommer Mount Rushmore in Süddakota als Kulisse. Das Pressefoto reihte seinen Kopf nahtlos an die in Fels gehauenen gigantischen Profile seiner Vorgänger George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Theodore Roosevelt. Das nationalistische Denkmal aus den dreissiger Jahren steht in den Black Hills, den heiligen Bergen der Sioux, denen das Land im 19. Jahrhundert erst zugesprochen und nach der Entdeckung von Goldschätzen wieder weggenommen wurde. Zur gleichen Zeit, als George Bush über die Sicherung der Heimatfront sprach, war eine Sammelklage von einer halben Million IndianerInnen gegen die US-Regierung hängig. 137 Milliarden Dollar sollen die Bürokraten im Weissen Haus im Verlauf von gut hundert Jahren veruntreut haben, alles Entschädigungsgelder, die vom Staat treuhänderisch verwaltet wurden. Das Departement des Innern hat die meisten Dokumente in dieser Sache verlegt, verloren oder willentlich zerstört. Im September dieses Jahres gab der Richter eines District Court (Landgerichts) in Washington DC der US-Regierung bis zum 6. Januar 2003 Zeit, um die Sache in Ordnung zu bringen. Das öffentliche Interesse am Prozess ist gering. Die bloss 2,1 Millionen UreinwohnerInnen (0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung) sind keine entscheidende Ingredienz im Melting Pot.

Bereits in den siebziger Jahren kam es in Süddakota, in der benachbarten Pine-Ridge-Reservation, wegen Landverträgen zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen des American Indian Movement und dem FBI. 1977 wurde der Aktivist Leonard Peltier, Angehöriger der Anishinabe und Lakota Nation, wegen der Tötung eines FBI-Agenten verurteilt. Er sitzt trotz nachweislich manipulierter «Beweisführung» der Staatsanwaltschaft heute noch im Gefängnis. Vor ein paar Tagen habe ich im Verkehrsstau am Heck vor mir einen «Free Leonard Peltier»-Kleber entdeckt. Es war ein rostiges Auto und ein zerschlissener Kleber, und ringsum flatterten unzählige neuwertige US-Fähnchen optimistisch mit dem Wind, aber immerhin. Die Geschichte ist nicht ganz vergessen.

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