Die USA als scheiternde Demokratie: Das Knie im Nacken

Nr. 23 –

Demonstration am 28. Mai vor einer brennenden Polizeistation in Minneapolis. Foto: John Minchillo, Keystone

Am 25. Mai drückte Derek Chauvin aus Minneapolis sein Knie so lange in den Nacken des am Boden liegenden George Floyd, bis dieser erstickte. Der weisse Polizist tötete den gefesselten Afroamerikaner wie beiläufig, mit den Händen in der Hosentasche. Drei seiner ebenfalls weissen Kollegen standen daneben und schauten zu. In den USA kommen jedes Jahr über tausend Personen durch Polizeigewalt um. Unverhältnismässig viele der Opfer sind People of Color. Doch diesmal traf die kaltblütige Tat den Nerv einer Bevölkerung, die wegen der Gesundheits- und der Wirtschaftskrise im Land bereits bis zum Äussersten angespannt war. «I can’t breathe», ich kriege keine Luft! Die verzweifelten Worte von George Floyd sind zum politischen Slogan einer Bewegung geworden, die gegen den atemraubenden Rassismus einer Gesellschaft kämpft, die ihre Sklavenhaltermentalität noch immer nicht abgelegt hat.

Als «amerikanisches Dilemma» bezeichnete der schwedische Sozialforscher Gunnar Myrdal 1944 die Tatsache, dass die USA eine moderne Demokratie sein wollten, aber einem Teil ihrer Bevölkerung, den Nachkommen der afrikanischen SklavInnen, grundlegende Bürgerrechte verweigerten. Die Ausgrenzung von nichtweissen Minderheiten dauert bis heute an. Ihr Stimmrecht wird nach wie vor unterdrückt oder erschwert. Ihre soziale Lage ist nach wie vor prekär. Ihre Gesundheit und ihre Lebenserwartung sind deutlich schlechter als die der hellhäutigen MitbürgerInnen. Die Inhaftierungsrate ist für schwarze Männer fünfmal so hoch. Racial Profiling gehört bei der Polizei zum Alltag. Brutale Gewalt ebenfalls.

Das amerikanische Dilemma zeigt sich zurzeit schärfer denn je. In den USA war selbst die auf den ersten Blick neutrale Coronapandemie für die schwarze Bevölkerung doppelt so tödlich wie für die weisse. Und zwar deshalb, weil sich viele AfroamerikanerInnen unbezahlte Krankentage nicht leisten konnten oder als «unverzichtbare Arbeitskräfte» beim Putzen oder an der Kasse im Supermarkt weiterhin dem Virus ausgesetzt waren. Weil sie auf engem Raum zusammenleben müssen. Weil sie häufiger in Quartieren mit schlechter Luftqualität wohnen. Weil sie oft in sogenannten Essenswüsten leben und kaum Zugang zu gesunder Ernährung haben. Weil ihr Immunsystem durch Dauerstress geschwächt ist. Weil das US-amerikanische Gesundheitswesen Profite vor PatientInnen stellt.

Auch die durch Covid-19 ausgelöste Wirtschaftskrise in den USA mit über vierzig Millionen Arbeitslosen traf ethnische Minderheiten besonders hart. Eine von vier Arbeitskräften in den USA hat in den letzten zehn Wochen ihre Stelle verloren. Bei den Geringverdienenden – oft afro- und lateinamerikanische Lohnabhängige – sind es gar vierzig Prozent. An den Demos gibt es deshalb neben den Plakaten gegen die Polizeigewalt auch solche, die zum Mietstreik aufrufen oder die ein Grundeinkommen fordern, zumindest bis die Pandemie ausgestanden ist. Donald Trump und seine Republikanische Partei lehnen jedoch staatliche Existenzsicherung aus ideologischen Gründen ab. Der Präsident verspricht stattdessen eine v-förmige Entwicklung der Marktwirtschaft: Auf den rasanten Absturz werde ein ebenso rasanter Wiederaufschwung folgen.

Solcher Zweckoptimismus erinnert an die 1930er Jahre. Damals war es der ebenfalls republikanische Präsident Herbert Hoover, der die Grosse Depression kleinredete und dadurch unnötig verlängerte. Erst Hoovers Wahlniederlage von 1932 gegen den demokratischen Opponenten Franklin Roosevelt machte den Weg frei für die Sozial- und die Wirtschaftsreformen des New Deal.

Wird es in diesen Sommer Armut und Hunger geben wie in den dreissiger Jahren? Das fragten sich viele US-AmerikanerInnen in den letzten Wochen besorgt. Doch seit dem Mord an George Floyd denken sie eher an die sozialen und politischen Verwerfungen von 1968. Damals wurden kurz hintereinander Martin Luther King und der demokratische Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy erschossen. Die Städte entflammten in Protest. Die Bürgerrechtsbewegung marschierte für Arbeit und Freiheit in Washington D. C. Immer mehr junge US-Amerikaner wurden für Vietnam zwangsrekrutiert und im Leichensack von diesem Krieg zurückgebracht. Die US-Gesellschaft war ideologisch so entzweit wie heute.

Die Gegenwart wird ihre eigene Geschichte schreiben. Eine Geschichte, in der Krise auf Krise auf Krise folgt. In der die Konflikte – anders als die der dreissiger oder der sechziger Jahre – von sozialen Medien angeheizt werden, die pausenlos Information und Propaganda verbreiten, deren Wahrheitsgehalt nur schwer zu überprüfen ist. Ausserdem spielt die aktuelle Geschichte in einem politischen System, das von rechts jahrzehntelang geschwächt und ausgehöhlt worden ist. Und in den Ruinen dieser scheiternden Demokratie steht der Maulheld Donald Trump und brüllt: «Amerika wird immer siegen.»

Fragt sich bloss, was für ein Amerika gewinnen wird. Trumps Herausforderer, der Demokrat Joe Biden, hatte bei der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur vor gut einem Jahr gesagt, die USA führten einen Kampf um die Seele der Nation. Das tönte damals melodramatisch. Jetzt hat die Wirklichkeit aufgeholt.