Die USA und ihr neuer Krieg: Oder: Die Rückkehr des Politischen

Der Druck, der Kreuzzug-Rhetorik endlich Taten folgen zu lassen, wächst von Tag zu Tag.

«Frühere Feinde haben Amerika als Hort der Demokratie kennen gelernt, die heutigen Feinde werden erfahren, dass Amerika der wirtschaftliche Motor für Freiheit, Möglichkeiten und Entwicklung ist», so reagierte der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick auf die Terroranschläge in den USA. Zoellick nutzte die Tragödie nicht nur, um – Wirtschaftskrieg oder Kriegswirtschaft? – die Notwendigkeit weiterer Handelsliberalisierungen zu begründen. Im gleichen Atemzug platzierte er GlobalisierungsgegnerInnen in deutlicher Nähe zum Terrorismus: «Dieser Präsident und seine Regierung werden für offene Märkte kämpfen. Wir werden uns nicht von DemonstrantInnen davon abhalten lassen, welche den freien Handel – und Amerika – für alle Übel dieser Welt verantwortlich machen.» Etwas provinzieller versuchen eine Handvoll republikanischer Senatoren dieser Tage die ökologisch umstrittenen Ölsondierungen in der Arktis als Antiterrorstrategie zu verkaufen. Die «Star Wars»-Fantasten nutzen die Gunst der militärfreundlichen Stunde ebenso wie die Wirtschaftsvertreter, die nach weiteren Steuervergünstigungen schreien. Die partikularistische Politik ist definitiv nach Washington zurückgekehrt.

Unter dem Deckmantel der patriotischen Tugend hat die US-Regierung allerdings von der ersten Stunde an (Geo-)Politik betrieben: Mit der Wortwahl «Krieg gegen Amerika» wurde militärische Vergeltung vorgespurt; für «Verbrechen gegen die Menschheit» wäre eine internationale Gerichtsbarkeit zuständig gewesen. Schamlos spielen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Justizvorsteher John Ashcroft mit wechselnden, schwer abzuschätzenden Horrorszenarien – biologische und chemische Anschläge, nuklearer Terrorismus –, um einer verunsicherten Bevölkerung ihre Vorstellung von nationaler Sicherheit, den Ausbau des Militär- und Polizeistaates aufzudrängen. Bereits wurde Ashcrofts totalitäres Antiterrorismusgesetz, welches die Rechte von BürgerInnen und ImmigrantInnen in den USA bedroht, demokratisch modifiziert, abgesegnet. Noch werden die Rachefantasien von Oberbefehlshaber George Bush von diplomatischen Bemühungen gebremst, doch der Druck, der Kreuzzug-Rhetorik endlich Taten folgen zu lassen, wächst von Tag zu Tag.

Das Dilemma, dass man angesichts der Gräueltaten und der anhaltenden Bedrohung unbedingt etwas tun müsste, jedoch nicht viel tun kann – jedenfalls nicht innerhalb der Grenzen von Gesetz und Moral – , ist schwer auszuhalten. Globale Gerechtigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Minimierung von zukünftigen Gewaltkonflikten; zur unmittelbaren Terrorismusbekämpfung taugt das Konzept nicht. Wie schon im Golfkrieg oder auf dem Balkan gibt es auch Linke, die in Gefahr und Not zum Bellizismus konvertieren: Der selbst ernannte Minoritätensprecher Christopher Hitchens reitet im linken Magazin «The Nation» eine Attacke gegen den «Faschismus mit islamischem Gesicht» und gegen alle – und vor allem Noam Chomsky –, die angesichts der Opfer in New York und Washington die «Sünde der Rationalisierung», der politischen Analyse, begehen.

«Soft on fascism», Weichlinge seien sie allesamt, und «zum Glück spielt es keine Rolle mehr, was solche Leute denken». – Das rechtsliberale Wochenblatt «The New Republic» fragt süffisant: «Was haben Usama Bin Laden, Saddam Hussein und Susan Sontag gemeinsam?» Antwort: die Erkenntnis, dass der Angriff auf das World Trade Center nicht der westlichen Zivilisation im Allgemeinen gilt, sondern spezifisch auf die Supermacht Amerika zielt. Die USA, verlangt das Blatt, müssten jetzt auch als Supermacht reagieren, nämlich militärisch – möglichst ohne Colin Powells multilaterale Diplomatie. Nur keine Sentimentalitäten, keine Therapierung des Zorns, kein Rückzug in die Trauer, kein nachdenkliches Innehalten, rät der Leitartikler: «Strategie allein bietet Trost.»

Die Rechte demagogisiert Mahnwachen für die Opfer des 11. September als Komplizenschaft mit den Selbstmordattentätern. «Protestierende wollen Frieden mit den Terroristen», schreibt die «New York Times» wider besseres Wissen über einen Artikel zur Antikriegsdemonstration vom letzten Wochenende in Washington (DC). Doch unter Opportunismusverdacht steht zurzeit nicht solch tendenziöse Berichterstattung; sondern die kritischen Stimmen, die nicht im blauweissroten Fahnenmeer untergegangen sind. Etwa die jungen StudentInnen, gestandenen FriedenskämpferInnen, religiösen Gemeinschaften, BürgerrechtlerInnen, Frauenorganisationen, Seattle-AktivistInnen und zahlreichen politischen Neulinge, die unter dem gemeinsamen Nenner «Krieg ist keine Antwort» diskutieren, mobilisieren, demonstrieren. Bemerkenswert, dass sogar einzelne Gewerkschaften – im Kampf gegen die neoliberale Weltwirtschaftsordnung wichtige und mächtige Bündnispartner, doch in nationalen Krisen bisher superpatriotisch und regierungstreu – sich dagegen ausgesprochen haben, «die Tragödie zu wiederholen» (Stahlarbeiter-Gewerkschaft).

Die klassische Politik, in Form von Regierung und Militär, ist – schon in Seattle, Davos und Genua als Kontroll- und Ordnungsfunktion präsent – nun ins Zentrum der Zivilgesellschaft zurückgekehrt. Wichtige bürgerliche Freiheiten wie das Recht auf Privatsphäre, die Presse- und Meinungsfreiheit und der Schutz vor rassistischer Diskriminierung müssen in den USA heute nicht gegen Wirtschaftsgiganten, sondern vorab gegen die politische Führung verteidigt werden. Gegen einen innenpolitisch muskelprotzenden Staat, der sich als Supermacht etwas desperat in einen Krieg gegen territorial und organisatorisch weltweit vernetzte Gegner stürzen will. Es wäre an der Zeit, den Gedanken, dass nationale Verteidigungsstrategien von der Wirklichkeit überholt worden sind und grösstmögliche globale Sicherheit heute am ehesten durch internationale Verträge und Abmachungen – und durch Globalisierung von unten – erreicht werden kann, aus dem Reich der Utopie auf den Boden der Realpolitik herunterzuholen.