Durch den Monat mit Alain Bittar (Teil 1): Allergisch auf Grenzen
Fühlten Sie sich von der Polemik
um die erleichterte Einbürgerung
betroffen?
Ja. Ich stamme aus einer syrisch-libanesischen Familie, die am Ende des 19. Jahrhunderts nach Ägypten und anschliessend in den Sudan auswanderte. In den sechziger Jahren kam ich nach Genf. Wir wohnten im Arbeiterquartier Sécheron. Ich wurde französischsprachig erzogen, entsprach keinem gängigen Vorurteil gegen Ausländer und wuchs so im Glauben auf, vollständig integriert zu sein.
Wie lange hielt das an?
Als Werkstudent nahm ich eine Arbeit als Abwart an. Der Beamte, der mein Einbürgerungsgesuch behandelte, konnte nicht verstehen, wieso ein Student der Politologie und Internationalen Politik Mistkübel leerte. Vorsichtshalber lehnte er das Gesuch ab. Dank diesem Beamten begriff ich, dass ich Ausländer war. Ich begann, mich für meine arabischen Wurzeln zu interessieren. Mein zweites Einbürgerungsgesuch wurde abgelehnt, weil man meine Beziehungen zur arabischen Welt verdächtig fand. Aus dieser Situation kam ich erst heraus, als ich mit der Buchhandlung einen arabischen kulturellen Raum in der Schweiz schuf. Jetzt stehe ich mit einem Fuss in der westlichen, mit einem in der arabischen Welt.
Was sind Sie heute?
Durch Heirat Franzose geworden, dem Papier nach Europäer, dem Herzen nach mediterraner, in die Schweiz verliebter Kosmopolit.
Gibt es ein Ereignis, das Sie als Immigrantenkind besonders geprägt hat?
Meine erste Schulreise ging ins französische Thonon. An der Grenze durften meine Klassenkameraden durch, ich wurde zurückgewiesen. Seither bin ich allergisch auf Grenzen aller Art.
Wollen Sie sie abschaffen?
Die Waren zirkulieren, die Menschen nicht. Das ist das Problem. Es wirft die Menschen zurück. Die Globalisierung bringt das Ende der Nationalstaaten. Sie wird begleitet von einer übersteigerten Bedeutung der ethnischen, religiösen und Stammesgemeinschaften. Davon profitieren rechtsextreme Parteien.
Sind die Nationalstaaten wirklich am Ende?
Schauen Sie sich die Zersplitterung in Ex-Jugoslawien an. Im Nahen Osten ist im Moment die gleiche ethnische und religiöse Balkanisierung im Gang. Der Irak ist nur der Beginn, irgendwann wird Syrien hineingezogen, Saudi-Arabien – in den nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahren ist hier Instabilität angesagt.
Was für Interessen stehen dahinter?
Der Zugriff auf die Ressourcen Wasser und Erdöl muss gesichert werden. Aktuell etwa im Sudan. Auch dort gibt es Wasser und Erdöl, und China ist sehr präsent in der Erkundung von Bodenschätzen. Wie durch Zufall entsteht plötzlich ein Problem. Ein Problem, das ohne die Intervention der USA nicht gelöst werden kann. Die Präsidentschaftskandidaten Bush und Kerry sind sich in einem einzigen Punkt einig: Die USA muss im Sudan zum Rechten schauen! Das Ganze wirkt auf mich wie ein Remake des Irak-Szenarios.
Wie sieht die arabische Welt die USA?
Für den arabischen Durchschnittsbürger gab es, genau wie für den europäischen, einen «amerikanischen Traum». Heute existiert eine Hassliebe auf die USA, doch im Moment schwingt der Hass obenauf. Wenn ich mit israelischen Freunden über den antijüdischen Rassismus in arabischen Ländern diskutiere, sind wir uns einig: Dieser Rassismus ist das Produkt der Politik Israels, die bedingungslos von den USA unterstützt wird. So entsteht das Gefühl, es werde mit zweierlei Mass gemessen.
Hat die Politik Auswirkungen auf Ihre Buchhandlung?
Viele Kunden kommen auf die Religion zurück. Interessant ist, dass sie sich weniger für den politischen Islam interessieren als für den Sufismus, die Mystik des Islam. Der politische Islam verliert seine Attraktivität. Viele denken, dass der Terrorismus von Geheimdiensten manipuliert wird.
Wird Usama Bin Laden von den USA manipuliert?
Das weiss ich nicht. Man weiss, dass der Mann enge Beziehungen zu den USA hatte. Dass er in Afghanistan als ihr Kreditgeber auftrat. Die USA haben seit 1945 begriffen, dass der politische Islam ihnen im Kampf gegen die französische, englische und russische Hegemonie nützlich sein kann. Die Beziehungen zwischen den Familien Bush und Saud sind sehr eng. Sie dienten dem Kampf gegen nationalistische, sozialistische, kommunistische Bewegungen. Im Nahen Osten sind alle Krisenstoffe der nächsten Jahrzehnte angelegt.
Was halten Sie von der Krise im Bundesrat?
Ich bin noch immer kein Schweizer Bürger. Dennoch denke ich, dass die Institutionen und die Regeln der Kollegialität respektiert werden müssen. Die Politiker aller Parteien sollten sich etwas weniger lahm zeigen und gefährliche Ideen anprangern. In einer Demokratie gibt es Grenzen, die man nicht überschreiten darf.
Alain Bittar, 51, Buchhändler und Verleger. Zusammen mit seiner Frau führt er die arabische Buchhandlung «L’Olivier» in Genf. Zwischen 1981 und 1989 war er Herausgeber der arabischen Ausgabe von «Le Monde diplomatique».