Durch den Monat mit Alain Bittar (Teil 3): Wie gross ist Europa?

Die Eidgenossenschaft hat soeben einem türkischen Imam, der im Islamischen Zentrum Genf arbeiten sollte, die Aufenthaltsbewilligung verweigert. Das Zentrum gilt als fundamentalistisch. Die Betroffenen haben Rekurs eingereicht. Was halten Sie von dieser Geschichte?
Ich wehre mich gegen alle Versuche, nun auch die Schweiz in die Polemik um einen so genannten Konflikt zwischen den Zivilisationen hineinzuziehen. Im konkreten Fall weiss ich zu wenig, um die Entscheidung als richtig oder falsch zu beurteilen. In der Regel bemüht sich die Schweiz bei den Kontakten mit islamischen Ländern und mit der arabischen Welt um Verständnis.

Interessiert Sie das Schicksal islamischer Zentren nicht?
Ich bin in religiösen Dingen wenig engagiert. Für mich gehört die Religion zur Privatsphäre, und ich trenne zwischen Privatsphäre und Politik, auch wenn das im Falle des Islam oft etwas theoretisch bleibt. Mich interessiert vor allem der Dialog zwischen den Kulturen.

Was halten Sie von einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union?
Mein Herz sagt Ja. Mein Verstand sagt: Ja, aber wie? Im Hintergrund steht eine andere, strategische Frage: Welches Europa will man, um der uneingeschränkten Herrschaft der USA etwas entgegenzusetzen? Ich wünsche mir, dass sich Europa als ausgleichende Macht etabliert und die multilateralen Ansätze in der Weltpolitik fördert. Vor diesem Hintergrund sollte bei jedem neuen Beitritt abgeklärt werden, ob er diesem Ziel dient, oder ob er die EU schwächt und teilt, wie es nach dem Beitritt Polens bei der Irakkrise geschehen ist. Abgesehen davon: Die Türkei befindet sich auf dem Weg zur Demokratie. Sie könnte eines Tages zu einer wichtigen Brücke zwischen Orient und Okzident werden.

Auch im westlichen Mittelmeer gibt es ein Brückenprojekt, den Plan für eine die Kontinente verbindende Brücke in der Meerenge von Gibraltar. Was bedeutet das Projekt für Sie?
Das ist mein Traum – der Traum von einem Treffen der nördlichen und der südlichen Ufer des Mittelmeers! Das Mittelmeer ist ein geografischer Raum mit 
einer langen gemeinsamen Geschichte. Europa braucht seinen Süden, je länger, desto mehr.

Wo hört der Süden auf?
Mein emotionaler Raum ist das Mittelmeer, das Land der Olivenbäume. Doch für mich ist die Frage, wo Europa aufhört, weniger interessant als die Frage, welche Beziehungen Europa zum Rest der Welt aufbauen will. Ich bin für Brücken und gegen Grenzen, ganz allgemein.

Und im Besonderen?
Im Besonderen bin ich gegen Leute, die mit der ganzen Welt Geschäfte treiben und das eigene Land mit einem Stacheldraht umgeben. Eines Tages wird der reiche Teil der Erde teilen müssen. Entweder er tut es freiwillig, oder er wird dazu gezwungen. Ich hoffe, dass es an diesem Tag genügend Brücken gibt, die ein friedliches Teilen erlauben.

Sie führen in Ihrer Buchhandlung neben arabischen auch europäische Autoren, von Goethe bis Hesse, die von der arabischen Welt fasziniert waren. Gibt es dieses Interesse auch in umgekehrter Richtung?
Der Westen und die arabische Welt hatten durch die Jahrhunderte hindurch enge Beziehungen. Nehmen Sie etwa Aristoteles – sein Werk ging in Griechenland verloren; es ist uns dank einer Rückübersetzung aus dem Arabischen erhalten. Eine der fruchtbarsten Zeiten war die Zeit des Kalifats von Cordoba im 10. Jahrhundert: eine Periode, in der Juden, Araber und Christen im spanischen, muslimisch beherrschten Andalusien gemeinsam forschten und studierten.

Ist die westliche Kultur von der arabischen beeinflusst?
Denken Sie an die arabischen Zahlen, an die Medizin, die Astrologie. Oder an den Minnesang, der von der arabischen Liebeskunst beeinflusst war. Im Libanon war die Buchdruckkunst lange Zeit viel weiter entwickelt als in Europa! Dank ihr gab es einen intensiven Austausch zwischen Orient und Okzident. Auch der Libanon war einst eine Brücke.

Zugespitzt: Hat die europäische Kultur ihren Ursprung in Griechenland oder in Ägypten?
Oder bei den Sumerern oder den Phöniziern? Die Antwort findet nur, wer an Brücken glaubt. Die westliche Kultur ist ein Schmelztiegel verschiedenster Einflüsse und Kulturen rund um ein gemeinsames Zentrum, das Mittelmeer.

Alain Bittar, 51, führt zusammen mit seiner Frau die arabische Buchhandlung «L’Olivier» in Genf.