Jean Améry: «Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert»

In einer Biografie wie auch in der Neu-Edition seines Werks lässt sich der Essayist und Romancier, der Emigrant und Auschwitz-Überlebende neu entdecken.

Bei der Schrift «Hand an sich legen», schrieb der kürzlich verstorbene Lothar Baier, Schriftsteller und WOZ-Mitarbeiter, vor gut fünf Jahren in einem grossen Essay in der «Frankfurter Rundschau», habe er den Eindruck, «es mit einem der Bücher zu tun zu haben, die erst im Lauf der Zeit preisgeben, was in ihnen an Einsichten niedergelegt ist». Was Baier, erstmaliger Träger des Jean-Améry-Preises, für die damals gerade ins Französische übersetzte Streitschrift über den Freitod konstatierte, liesse sich, seitdem der Klett-Cotta-Verlag nach und nach das Konvolut aller Schriften Amérys zugänglich macht, getrost auf das Gesamtwerk ausweiten. Hier gibt es etwas zu entdecken, das man bereits zu kennen wähnte. Oder etwas, das man – wie wohl viele der Jüngeren – noch nie zur Kenntnis nahm, weil sich so viel dazwischenschob, das zu wissen anstand: über Vertreibung und Exil, über die Juden, den Holocaust und den Geist, der die Welt «danach» bestimmte. Erinnerungslosigkeit ist das Kennzeichen einer auf Eile eingestellten Gesellschaft. Gelegentlich bedarf es eines Augenblicks des Verharrens und Zurückblickens, um das, was man zu kennen meint, neu zu entziffern.

Baiers mimetischer Nachvollzug der Schrift über den Freitod gibt eine Art Schlüssel in die Hand, mit dem nicht nur Amérys Werk zu entdecken ist. Er erschliesst in gewisser Hinsicht auch seine persönliche «Revolte in der Resignation», der die Améry-Kennerin und Chefeditorin Irene Heidelberger-Leonard in einer profunden Biografie nachgespürt hat. Zwei Begriffe, so Baier, seien in Amérys Plädoyer für die Freiheit zum Suizid bestimmend: Echec und Dignité. Der im Französischen bewanderte Améry habe diese beiden Begriffe bewusst den deutschen vorgezogen, um einerseits dem blossen äusseren Scheitern eines Menschen die «soziale Untröstbarkeit» einzuschreiben (Echec), die einen Selbstmörder zur Tat schreiten lassen kann. Die verletzte Dignité – die mehr ist als die äussere Würde – verlange eine Antwort: die Selbstauslöschung. Im Echec summieren sich somit, so Amérys Überlegung, «viele Ziffern von Demütigung, welche von der Dignité und Humanität des Suizidärs nicht angenommen werden».

Nun ist es vor dem Hintergrund dieser Schrift und mit der gewussten Vergangenheit im Gepäck ein Leichtes, Amérys Leben und Tod – Améry beging, nach einem ersten gescheiterten Versuch, 1978 Selbstmord – Sinn abzuringen. Die hier vorgestellte Lesart will also keineswegs Amérys Leben im Nachhinein einer sinnstiftenden Kausalität unterwerfen. Die Begriffe Echec und Dignité scheinen vielmehr ein hilfreiches Instrument, die biografischen «Knoten» zu entknüpfen, die Heidelberger-Leonard – stetig oszillierend zwischen historisch ausgeleuchtetem Leben und ausgedeutetem Werk – in Amérys Geschichte ausmacht. Dabei ist die sprachliche Eigenwilligkeit der Biografin (wo es sich nicht nur um säumiges Lektorat handelt, das leider auch zu beklagen ist) ihrem Gegenstand nachempfunden.

Ein «Knoten», in den sich bereits der junge Améry verkeilt, ist seine Identität. 1912 geboren und zwischen dem winterlichen Dorfidyll in Bad Ischl und der «Weltläufigkeit» der Wiener Sommer pendelnd, nimmt das behütete, etwas kränkelnde Kind Hans Mayer, später auch als Maier oder Mayr ausgewiesen, früh Anstoss an der Gewöhnlichkeit seines Namens (das Anagramm Jean Améry prägt er erst 1955). Sosehr sich Hans an seine geliebte bäuerliche Umgebung anzupassen trachtet und die «jüdische Vornehmheit» Wiens hasst, so sehr bemüht sich der von einer weiblichen Umgebung zu guten Manieren und ordentlicher Sprache angehaltene Kriegswaise (Amérys Vater Paul fiel 1917) um Distinktion. Er gilt als «belesen, frühreif und altklug», feixt über den Dorflehrer – und scheitert dennoch als Schüler. Das literarische Erstlingswerk «Die Schiffbrüchigen», das der junge Nobody Mitte der dreissiger Jahre an niemand anderen als Thomas Mann zur Begutachtung schickt, wird mit nichts sagenden Worten zurückexpediert. Nie wird es der hoch gebildete Autodidakt Améry verwinden, auf dem Gymnasium versagt und keine akademische Ausbildung genossen zu haben. Der Stachel sitzt so tief, dass er nach dem Krieg gelegentlich mit einem Doktortitel hochstapelt. Vielleicht war Améry deshalb so stark auf das Echo von aussen angewiesen; sein Ausbleiben wirkte vernichtend auf ihn.

Überdies macht es die antisemitisch gestimmte Heimat dem mittellosen Buchhändlerkommiss, der im «roten Wien» untergeschlüpft und dort Anschluss an den «Wiener Kreis» gefunden hat, nicht leicht. Das bislang nur vage Bewusstsein, «a Saujud» zu sein, wird nach dem «Anschluss» Österreichs zu einer existenziellen Bedrohung. Die langjährige Assimilation war, wie sich zeigen wird, umsonst. Mit der Heirat der Jüdin Renate Berger bekennt sich Améry, der seine jüdische Identität bislang eher nicht zur Kenntnis nahm, wieder zur jüdischen Gemeinde.

Doch die Hoffnung, in Österreich «zu überwintern», erfüllt sich nicht. 1938 flieht Améry mit seiner Frau in das mit Juden überfüllte Antwerpen. Heimatlosigkeit wird zum Elixier seiner künftigen Existenz: «Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben», wird Améry viel später schreiben. «Wir hatten aber nicht das Land verloren, sondern mussten erkennen, dass es niemals unser Besitz gewesen war.» Améry wird zeitlebens Exilant bleiben, denn «in a Wirtshaus, aus dem ma aussigschmissn worn is, geht ma nimmer eini».

Die Heimatlosigkeit ist das eine; schlimmer vielleicht noch die Hilflosigkeit und Weltverlorenheit, die das Folteropfer Améry am 23. 7. 1943 empfindet, als es in der belgischen Festung Breendonck, nachdem seine Widerstandsgruppe aufgeflogen ist, von Nazischergen sadistisch misshandelt wird. «Die Tortur» wird zur leitmotivischen Figur in Jean Amérys literarischem und essayistischem Werk, und es ist das Verdienst der Biografin, in die feinen Verästelungen seiner Auslegung vorzudringen. Der real dem Körper zugefügte Schmerz und der damit einhergehende «Verlust des Weltvertrauens» zwingen Améry jedenfalls zum ultimativen Einspruch gegenüber allen imaginativen Manifestationen: «Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert» und «waffenlos der Angst ausgeliefert».

Dagegen erscheinen Améry die sich an Breendonck anschliessenden 652 Tage in den Konzentrationslagern Auschwitz (wo er wegen seiner Schreibkenntnisse im Aussenlager der Buna-Werke überlebt und dort Primo Levi kennen lernt), Dora-Mittelbau und Bergen-Belsen als vergleichsweise gnädig. Die Folter bedrohte seine Identität, sie meinte ihn als Person und löschte ihn aus; die Lagererfahrung war «Massenschicksal», auch wenn, wie Améry später vielfach feststellte, auch hier der Körper über den Geist triumphierte. Es überstanden zu haben, empfand er wie viele KZ-Überlebende als Makel und Schuld.

Nach Antwerpen zurückgekehrt, überlebt Améry zunächst notdürftig von journalistischen Arbeiten – vor allem für Schweizer Medien. Seine Frau ist verschollen, es dauert Jahre, bis er von ihrem Tod erfährt. Er ist verzweifelt, weiss keinen Weg in die Zukunft. Seine Gedanken spreizen sich zwischen zwei Sprachen, er pflügt auf mehreren Geländen. Er spricht perfekt Französisch und schreibt auf Deutsch, er ist Journalist, Essayist und will, wie schon in seiner Jugend, eigentlich Schriftsteller sein. Doch vor allem ist er ein «Berufs-Auschwitzler», der mit Primo Levi und anderen darum konkurrieren muss, die wie einen «Gral» gehütete Lagererfahrung am «authentischsten» zu vertreten. Doch im Gegensatz zu Levi ist Améry, obwohl auch er die Deutschen nach dem Krieg zunächst noch für «besserungsfähig» hält, kein guter «Verzeiher». Das Ressentiment, dessen er die Deutschen verdächtigt, wird auch das seine bleiben.

Und er beharrt auf der präzisen Unterscheidung von Tätern und Opfern, lehnt alle relativierende Täterpsychologie ab. Seine Abwehr gegen die Simplifizierung der Tat («Banalität des Bösen») oder ihre dialektische Auflösung bringt ihn in Konflikte: nicht nur mit dem Leidensgenossen Levi, sondern auch mit Deutungshoheiten wie Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno. Die eine zeiht er, in «einem gläsernen Käfig» zu sitzen, den «Jargon der Dialektik» (so ein Essay aus dem Jahre 1967) verwirft er als «Allüre des Denkens», dem die «Furcht vor der Banalität» im Nacken sitze. In Amérys nachgelassenen «Aufsätzen zur Philosophie», in die auch seine frühe Auseinandersetzung mit der französischen Nachkriegsphilosophie aufgenommen ist, finden sich messerscharf gedachte, sprachlich brillante und nach wie vor erkenntnisträchtige Präziosen deutscher Essayistik.

Schwerer als der Neid auf die Ausstrahlung der «Frankfurter Schule» wiegt die Kränkung, dass ihn die französische Geisteselite nicht zur Kenntnis nehmen will (die französische Rezeption Amérys setzt erst in den neunziger Jahren ein). Dem Idol des Existenzialismus verdankt Améry den philosophischen Ausweg aus der Krise, die Selbsterschaffung als Mensch. Noch nach der Veröffentlichung von «Jenseits von Schuld und Sühne», die Améry schlagartig bekannt und zum gefragten Essayisten macht, arbeitet er sich am Vorbild Sartre und am französischen «Antihumanismus» ab. Gegen ihn bringt Améry unbeirrt den «quälbaren Leib» in Anschlag. Es ist nicht nur die Foltererfahrung; der schwer herzkranke Améry weiss um die Anfechtungen des Körpers – dieses «Wohnhauses grimmer Schmerzen».

In seinem letzten Lebensjahrzehnt bündelt Améry noch einmal alle Kräfte, will sich, tatkräftig unterstützt von seiner zweiten Frau Maria Leitner, nun endlich als Schriftsteller durchsetzen. Die beiden Roman-Essays «Lefeu oder der Abbruch» und «Charles Bovary, Landarzt» – eine im Übrigen neu zu entdeckende Seite in Amérys Werk – werden von der Kritik jedoch nur verhalten aufgenommen, sie weiss mit diesem neuen, die Gattungsgrenzen sprengenden Genre nichts anzufangen. Heidelberger-Leonard deutet dieses zweite Scheitern als Erzähler als «auslösendes Moment» für Amérys Entscheidung für den Freitod. Vielleicht, um auf Baiers Interpretation zurückzukommen, summierte sich der Echec auf eine für die Dignité Amérys unerträgliche Weise. Der österreichische Jude und Emigrant auf Lebenszeit mit der Häftlingsnummer 172374 hat seinen «Weg ins Freie» gewählt: in seiner ehemaligen Heimat im Salzkammergut. Doch Amérys lebenslange Faszination für den Freitod, darauf insistiert seine kluge Biografin, war nicht so blind, als dass er nicht gewusst hätte, dass nur die Entscheidung, nicht das Resultat «Freiheit» verspricht.

Irene Heidelberger-Leonhard: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2004. 408 Seiten. 43 Franken. Nachtrag: Die neunbändige Werkausgabe von Jean Améry ist 2012 vollständig erschienen. Die Bände sind auch einzeln erhältlich