Jugoslawiens Kultur sucht nach neuem Selbstverständnis: Turbo-Folk-Dämmerung

Er wurde in der Nacht zum 29. November 2000 zum letzten Mal begangen: Der Jahrestag der Gründung der «Föderativen Volksrepublik Jugoslawien». Es ist genau 55 Jahre her, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Jajce die antifaschistische Volksbefreiungsbewegung unter Führung von Josip Tito in ein neues transnationales und multiethnisches Staatsgebilde mündete – von Stalin argwöhnisch beobachtet.
Künftig wird man in Serbien wohl nicht mehr am 29. November, sondern am 5. Oktober ausgehen: Um jene «Revolution» zu zelebrieren, nach der der nationalistische Oppositionspolitiker Vojislav Kostunica, der wahrscheinliche Sieger der letzten Präsidentschaftswahlen, die Führung der Bundesrepublik Jugoslawien übernahm. Aber im Jahr 2000 wurde noch einmal gefeiert, wie es die Tradition des Gedenkens an den Partisanenkrieg vorsah. Die Clubs und Cafés an diesem Abend waren voll, die Stimmung in der Periode des «Interregnums» – zwischen dem 5. Oktober und den Wahlen zum serbischen Parlament am 23. Dezember – war zugleich gespannt und gelöst. Vorschusslorbeeren an die neue Regierung wurden nur zögernd verteilt. Stattdessen freuten sich BelgraderInnen unterschiedlicher Generationen auf ein Konzert der kalifornischen Elektronik-Artrock-Legende Tuxedomoon, die am 13. Dezember mit dem Münchner DJ Hell auftreten sollte – präsentiert vom alternativen Medienkonzern B 92, von der Münchner Plattenfirma International Deejay Gigolo Records und vom Goethe-Institut Belgrad. Kulturarbeit nach Milosevic.
Slobodan Milosevic, der nach dreizehn Jahren seinen Platz räumen musste und am 5. Oktober in der Optik des Westens auf wundersame Weise vom «Faschisten» zum «letzten kommunistischen Führer» mutierte, hatte noch am titoistischen Brauchtum des «Tages der Republik» festgehalten. Es ist bezeichnend für die Situation in Serbien, dass die Studentenorganisation Otpor («Widerstand»), die massgeblich am Sturz von Milosevic beteiligt war, ihr Image an den heldenmutigen Widerstandskämpfern aus dem einst populären Genre des Partisanenfilms profiliert hat. Dragan Ambrozic, Journalist und PR-Manager bei B 92, beschreibt in einem Text über die «Cool Revolution» vom Oktober 2000, wie sich die jugendlichen Otpor-Kämpfer mit jenen antifaschistischen Partisanenfiguren aus der populären jugoslawischen Variante des Spaghettiwesterns der siebziger und achtziger Jahre identifizierten.
Jetzt wird der antifaschistische «Tag der Republik» aus den Kalendern gestrichen. Nicht zuletzt dank der neuen Partisanen von Otpor, die für ihr effizientes Revolutionsmarketing im November den «MTV Free Your Mind Award» entgegennehmen durften. Ihr Logo ist eine geballte, schwarzweisse Faust. Für die Wahlen vom 23. Dezember hat Otpor, unterstützt von vielen US-Dollars, im ganzen Land das Bild der Faust neben der Aufforderung «Overi!» plakatiert. «Overi!» heisst so viel wie: «Bestätigt!» (die Ereignisse vom 5. Oktober), «Setzt den Stempel drauf!» oder auch «Give me five!».

Prada und Selbstorganisation

Die «Sohobar» in der Strahinjica Bana, einer Strasse im Ausgehviertel Belgrads, ist an diesem letzten «Tag der Republik» gut besucht: schöne Frauen in Designergarderobe, muskelbepackte Bodyguard-Typen in feiner Sportswear und die übliche metropolitane Mischung aus KünstlerInnen und Geschäftsleuten. Das Bier kostet hier für Belgrader Verhältnisse viel, die Kellner tragen kleine «Lucky Strike»-Sticker auf ihren Hemden, dafür hängen an den Wänden afrikanische Masken und gerahmte Schwarzweissfotografien mit Szenen aus einer nordafrikanischen Kasbah. Ein DJ spielt Platten von Tosca oder Kruder & Dorfmeister.
Die Prada-Kleider, die in der «Sohobar» ausgeführt werden, lassen sich in speziellen Wohnungen in Belgrad erwerben. Wer die entsprechenden Adressen kennt, kauft gestohlene Luxuswaren zu erschwinglichen Preisen – angesichts der tief greifenden ökonomischen Misere paradox. Aber in Belgrad hat sich ein komplexes System von Parallelwelten und Schattenökonomien entwickelt, das permanent solche Widersprüche produziert. Da in den letzten fünfzehn Jahren auf die Einrichtungen des Staates und der nationalen Ökonomie immer weniger Verlass war, ist man auf die unterschiedlichsten Formen der Selbstorganisation ausgewichen. Von in Bulgarien raubkopierten CDs, die überall in der Stadt für fünf Mark angeboten werden, bis zu besagten Designerklamotten – unter dem doppelten Druck von äusserem Embargo und innerer Repression wurde ein selbstverständlicher Umgang mit diversen Spielarten der Wirtschaftskriminalität kultiviert.
In der Para-Gesellschaft Serbiens befinden sich Qualifikationen und Ressourcen kaum je an ihrem angestammten Platz. Man trifft sie in der Regel leicht verschoben an, in offener Klandestinität. Zu jeder offiziellen Institution existiert ein inoffizielles Double. Das Militär wurde ergänzt durch die Paramilitärs; den sozialen Einrichtungen von Kirche und Staat standen die mit Westgeldern unterstützten Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen gegenüber; parallel zur abgewirtschafteten Universität bildete sich ein alternatives Ausbildungsnetzwerk.
Die zivilgesellschaftliche Sphäre in Serbien zählt ungefähr 2000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Auch die relevanten Akteure des Belgrader Kulturbetriebs sind hier angesiedelt. NGOs wie das Centre for Contemporary Arts oder das Centre for Cultural Decontamination, die von westlichen Stiftungen finanziert werden, organisieren Ausstellungen, medienkritische Debatten, kunsttheoretische Publikationen und universitätsunabhängige Postgraduierten-Seminare; die Vereinigung unabhängiger Theater bemüht sich darum, den Spielbetrieb auf den kleineren Bühnen aufrechtzuerhalten.
All diese para-akademischen und para-kulturellen Aktivitäten stehen durch die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl vor Richtungsentscheidungen. Was zivilgesellschaftlich organisierte Dissidenz und Gegenwelt war, soll nun in die Pflicht der neuen «demokratischen» Ordnung genommen werden. Das erwartet der Westen, dessen Organisationen und Interessenverbände jetzt in Belgrad tätig geworden sind; das erwarten aber auch die Bürger und Politiker, die in einem neuen Staat ankommen wollen. Dabei herrscht keine Einigkeit darüber, was man sich im Einzelnen von diesem neuen Staat verspricht. Hinter Phrasen wie «Transparenz», «Demokratisierung» und «Professionalität» stehen sehr unterschiedliche Überzeugungen.
Vom Büro des Centre for Contemporary Arts im sechsten Stock eines Gebäudes an der Kneza Milosa konnte man am Morgen des 5. Oktober den Arbeitern aus der Stadt Cacak dabei zusehen, wie sie mit ihren Bulldozern in Richtung Parlamentsgebäude zogen. Knappe zwei Monate später berichten Branislava Andjelkovic und Branislav Dimitrijevic, die hier für die Kooperation mit bildenden KünstlerInnen und eine Postgraduate-«Schule für Geschichte und Theorie der Bilder» verantwortlich sind, von zahlreichen Angeboten aus den Reihen des Regierungsbündnisses um Kostunica. Warum will das Centre for Contemporary Arts nicht die Leitung des Museums für Gegenwartskunst übernehmen oder in dieser oder jener Kommission vertreten sein?

Kampf der eigenen Hegemonie

Die Schwierigkeit bestehe in diesem historischen Moment darin, sagen Andjelkovic und Dimitrijevic, sich nach Jahren der Arbeit in alternativen Netzwerken der eigenen Verantwortung bei der Neugestaltung der Kulturpolitik in Serbien zu stellen, ohne deshalb in die «toten» Institutionen einzurücken, als hätten sich diese plötzlich in eine Art Tabula rasa verwandelt, auf der unbeschwert Reformen entworfen werden könnten.
Einerseits müsse man die Gunst der Stunde und die gesteigerte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nutzen. Denn dieser Zustand werde nicht ewig anhalten, und die Karawane der internationalen Hilfsgemeinschaft mitsamt ihren publizistischen und finanziellen Interessenten ziehe irgendwann weiter. Andererseits aber hätte sich die eigene politische Arbeit in den neunziger Jahren nicht nur gegen Milosevic gerichtet, sondern sei genauso auch vom Kampf gegen die nationalistische Opposition bestimmt gewesen, die jetzt am Ruder sitze. Vor diesem Hintergrund sei es politisch entscheidend, so Andjelkovic und Dimitrijevic, Kritik mit Selbstkritik zu verbinden, ständig die «eigene Hegemonie im kulturpolitischen Kontext der Stadt in Frage zu stellen».
Auch der Philosoph Obrad Savic, Begründer des Belgrade Circle, ist kaum dazu bereit, mit der «nationalistischen Familie, die Kostunica umgibt», zu kooperieren. In den neunziger Jahren hat er internationale Koryphäen der politischen Theorie und Philosophie zu Seminaren in die Stadt geholt, zuletzt den Kommunitarismus-Theoretiker Charles Taylor oder den Philosophen Richard Bernstein von der New School of Social Research in New York. In seinem Büro in der Narodnog Fronta erzählt Savic, wie ihm seine amerikanischen Philosophenfreunde nach dem 5. Oktober E-Mails geschickt hätten, in denen sie wie selbstverständlich davon ausgingen, er würde nun zumindest den Posten des serbischen Kulturministers übernehmen. Er musste sie enttäuschen. «Gerade in der jetzigen Situation», sagt Savic, «ist es entscheidend, die Funktion des Korrektivs beizubehalten.» Angesichts der skandalösen Fortsetzung der Korruptionsverhältnisse auf allen Ebenen, auch angesichts der Annäherungen von Kirche und Staat sei es von grösster Wichtigkeit, «die Minderheiten vor uns, der neuen Mehrheit, zu schützen», erklärt Savic.

Mehrheitskulturen

In Cubura, einem Wohnviertel südwestlich der Innenstadt Belgrads, steht irgendwo am Strassenrand ein nagelneues Mercedes-Coupé. Aus dem Inneren wummert Turbo-Folk. Aber der Wagen ist leer, als hätte sich sein Besitzer davongemacht.
Das Bild der dröhnend-leeren Luxuskarosse hat Symbolcharakter. Turbo-Folk war der Pop-Soundtrack der nationalistischen Medien der letzten Jahre. Jetzt befindet sich das eklektische Musikgenre unter Legitimationsdruck. Die politischen Veränderungen haben Superstars wie Ceca 2000, der Witwe des Anfang 2000 erschossenen Paramilitärs Arkan, den Resonanzboden entzogen. Inzwischen gilt der Stilmix aus Techno, serbischer Volksmusik und türkischem Pop einhellig als Musik der «Kriegsgewinnler» – von Leuten eben, die sich in Serbien nagelneue Mercedes-Coupés leisten können.
Im Gegenzug werben die führenden Agenturen des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels in Serbien für die «bessere» Folklore. Das Plattenlabel des Radio- und Fernsehsenders B 92 hat vor kurzem die Compilation «Srbija: Sounds Global» veröffentlicht. Eine schöne Zusammenstellung, die unter anderem den Blaskapellen-Star Boban Markovic und die traditionelle Kopfstimme-Sängerin Svetlana Spajic präsentiert. Der Sampler soll an die multiethnischen Traditionen des Balkans erinnern und Serbien auf der Landkarte der Weltmusik eintragen.
Aber die Liner-Notes verkaufen die Platte auch als klingenden Beweis dafür, dass man das «Zeitalter des Turbo-Folk überlebt hat». In den Reihen der Studentenbewegung Otpor, die eng mit B 92 zusammenarbeitet, wird Turbo-Folk inzwischen als «unreine, minderwertige, orientalische» Musik abgetan. Man solle ihr die Besinnung auf «höher stehende» nationale Traditionen der Volksmusik entgegensetzen.
Auch so entstehen neue kulturelle Mehrheitsverhältnisse.

Zur Lektüre empfohlen: «Belgrad Interviews. Jugoslawien nach Nato-Angriff und 15 Jahren nationalistischem Populismus» von Katja Diefenbach (b-books, Berlin).