Keine Hoffnung mehr in den palästinensischen Lagern: Der Gestank von Oslo
In Osamas Kleiderladen trinken die Leute Kaffee und diskutieren. Erinnerungen und Aufzeichnungen aus dem Flüchtlingslager Al Jalasoun in der Westbank.
Ich hatte das Glück, aus dem Flüchtlingslager rauszukommen. Zumindest sehe ich das heute so. Denn früher gefiel mir das Lager noch ganz gut. Zwischen 1961, meinem Geburtsjahr, und 1985 lebte ich im Lager Al Jalasoun, sechs Kilometer nördlich von Ramallah, in der Westbank. Dann ging ich nach New York. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort tun würde, aber ich hatte die Chance, zu gehen, und ich verpasste sie nicht. Ich wollte weg. Damals, 1985, zwei Jahre bevor der Volksaufstand – die Intifada – begann, war die Lage scheusslich. Die Israeli kontrollierten dich auf Schritt und Tritt. Es gab keine höheren Schulen, keine Kunstschulen, keine Arbeit, keine Sicherheit. Überhaupt keine Sicherheit. Dieser Druck war spürbar.
Soweit ich mich erinnere, war das Lager damals relativ sauber. Es gab mehr Bäume als heute und einige Brunnen. Das Lager war eine Art Überstruktur. Nichts wirklich Existierendes. Ich hielt es für etwas Vorübergehendes; etwas, das zum Verschwinden bestimmt war. Das Lager bestand aus Erinnerungen. Die Strassennamen, die Namen der Bäume, Beziehungen, Witze, Freund- und Feindschaften – das war alles Ersatz für etwas, das vermisst wurde, aber nicht verloren war. Erinnerungen waren die Fabrik, in der das Lager zur Überstruktur vernäht wurde, die das Elend des Lagers überwand. Die damals Fünfzigjährigen waren ja erst zwanzig, als sie 1948 ihre Dörfer verliessen. Der Geschmack des verlorenen Paradieses war noch frisch.
Selbstverwaltetes Abwasser, ungeklärt
Doch der Zustand des Lagers heute ist eine andere Geschichte. 1994 kam ich für einen Besuch nach Jalasoun zurück. Der lokale Direktor der UNRWA, des Uno-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge, hatte entschieden, zur Lösung des Abwasserproblems beizutragen, indem er einen Kanal graben liess, der ohne Abdeckung durch die Hauptstrasse des Lagers verläuft. Der Kanal geht vor der Türe unseres Hauses durch. Die Strasse ist voll von spielenden Kindern, und das Problem dieses Kanals ist so offensichtlich und gravierend, dass es nicht zu glauben ist, dass heute, sieben Jahre nach Beginn der palästinensischen Selbstverwaltung, immer noch nichts getan worden ist.
Das ist eine Metapher für alles, was die Lage der Flüchtlinge angeht. Das ist die Ebene, von der aus die Flüchtlinge die Politik und die Welt sehen und interpretieren. Wie wirkt sich etwas auf das Abwasserproblem aus? Werden die Menschen ohne den Gestank, ohne die Mücken leben können, oder wird es zu einem festen Bestandteil ihres Lebens? Und ich mache das Gleiche. Ich nehme das Flüchtlingslager zur Grundlage; in einem Kunstprojekt nannte ich es einmal «ground zero». Ich sehe Politik, Entwicklungsstrategien, Friede, Krieg und so weiter vom Flüchtlingslager aus. Was wird es dem Lager bringen? Wie wird es das Leben der Menschen verändern? Von dort aus finde ich meinen Weg.
Ich lebe nicht mehr im Lager, aber ich gehe beinahe täglich hin. Ich habe immer noch ein Haus dort, und die Freunde aus meiner Kindheit leben noch dort. Manchmal besuche ich Osama. Er besitzt im Lager einen Kleiderladen. Osama war lange im Gefängnis. Er war bekannt als Sympathisant der PFLP, der Volksfront zur Befreiung Palästinas, und deshalb suchten ihn sich die Israeli zur Bestrafung aus, wann immer im Lager etwas passierte. Osama ist beliebt in Jalasoun. Die Leute vertrauen ihm, und er ist Vorsitzender des Volkskomitees, das das Lager gegenüber den Selbstverwaltungsbehörden vertritt. Sein Geschäft gleicht einem Café, ständig gehen Leute ein und aus. Junge und alte Männer und Frauen kommen, um etwas zu kaufen oder einfach, um zu plaudern und mit Osama Kaffee zu trinken. Entsprechend vielfältig sind die Gesprächsthemen. Gestern war ich auch da, und ich habe einen Teil der Gespräche mitgeschnitten.
Kleiderladengespräche
Osama: «Bei den Gesprächen in Camp David drehte sich alles um Jerusalem. Dabei ist Jerusalem gar nicht so wichtig. Aber dadurch konnten alle Camp David als Sieger verlassen. Und das auf Kosten der viel wichtigeren Fragen, zum Beispiel des Problems der Flüchtlinge.
Und was sagst du dazu? Ich hatte ein Treffen mit dem Direktor der Entwicklungsbehörde, der PECDAR, um über die offene Kanalisation im Lager zu sprechen. Er sagte mir, dass Abu Ammar (Jassir Arafat) ihn anwies, im Lager nicht einen einzigen Nagel einzuschlagen. Sie sagen, dass sie die Flüchtlingslager als politische Realität erhalten wollen. Aber ändert das etwas an meiner realen Existenz als Flüchtling, wenn meine Scheisse in eine Kanalisation gespült wird statt in die Strassen? Warum müssen sie jedes Detail des Lagers erhalten?
Ob sie den palästinensischen Staat nun am 13. September 2000 oder am 13. September 2001 ausrufen, was ändert das schon für mich? Sie werden es sowieso verschieben. Ein eigener Staat verändert meine Lage nicht. Werden wir eine unabhängige Wirtschaft haben? Werden wir unabhängig sein?
Neulich rief mich mein Freund Ibrahim aus den USA an. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Ich lachte bloss. Der denkt, das geht so einfach. Dabei gibt es so viel rund ums Reisen. Visa, Sicherheitskontrollen, ob sie dich überhaupt reisen lassen oder nicht. Das ist etwas anderes, als in die Lager Kalandia oder Amari zu gehen. Es ist schwierig, überhaupt irgendwohin zu gehen. Doch Ibrahim war erstaunt. Er sagte mir, aber ihr habt doch jetzt einen Flughafen, Flugzeuge, Reisepässe. Warum könnt ihr dann nicht reisen?
Ich sage dir, ich sehe die Dinge immer noch wie früher. Wir krepieren immer noch, heute einfach mit ein wenig mehr Diplomatie als früher. Was hat sich schon geändert in den sieben Jahren seit Oslo? Nichts.»
Hast du denn etwas erwartet vom Gipfel in Camp David?
«Nein. Es ging einfach an mir vorbei, vom ersten bis zum letzten Tag. Ich erwartete gar nichts. Als das Scheitern in Camp David bekannt wurde, kamen Aktivisten der Fatah zu mir und sagten, dass wir etwas tun sollten. Protestieren. Sie erwarteten einen Wutausbruch, zumindest erhofften sie ihn sich. Aber ich sagte ihnen, dass nichts passieren wird. Die Tage vergingen, und nichts passierte. Die Leute fühlten sich nicht betroffen. Irgendwie haben sich die Menschen auch voneinander entfernt. Es ist ein Graben entstanden. Wir sollten die ganze Klassen- und Statusfrage eben nicht vergessen. Die Leute drücken es vielleicht etwas weniger kompliziert aus, aber sie sagen genau das. Wer gelitten hat, wer sich wehrte, wer gefangen war, wer verletzt war – die sind alle an den Rand gedrängt. Sie sind nicht mehr im Brennpunkt. Sie dürfen nichts entscheiden. Andere kassieren ab, durch ihre Leiden. Das trauen sich die Leute schon zu sagen. Das kannst du überall hören. Vor allem natürlich in den Flüchtlingslagern.»
Abhauen statt Zurückkehren
Welche Lösung würdest du akzeptieren?
Osama: «Du erinnerst dich doch, was wir früher von den Leuten dachten, die abhauen wollten. Wir wollten unsere jungen Leute nicht gehen lassen, noch nicht einmal für ein Studium. Wir alle sollten hier bleiben, um zu kämpfen. Wir sollten hier bleiben, um einmal zurückkehren zu können. So war das. Heute wäre ich der Erste, der auswandern würde. Die diskutieren ja in den Verhandlungen auch darüber. Da kannst du dir vorstellen, wie sie das Problem lösen wollen. Sie wollen uns Flüchtlinge einfach von anderen Ländern aufnehmen lassen. USA, Kanada, Australien und Jordanien. Im Ernst: Ich dachte im Leben nicht, dass ich das einmal sagen würde, aber heute sage ich es – wenn sie mir Geld anbieten, werde ich es nehmen. Ich würde es nehmen und gehen.»
Abu Hasan, ein etwa 48-jähriger Freund Osamas, mischt sich ein. «Entschädigung? Wofür werden sie mich entschädigen? Werden sie meine grauen Haare schwarz einfärben? Wie wollen sie fünfzig Jahre Demütigung und Leiden auswaschen? Was werden sie mir geben? Zwanzigtausend, fünfzigtausend, hunderttausend? Welches meiner Leiden soll ich damit zuerst lindern? Was soll ich damit tun? Zwei Zimmer bauen? Nichts, gar nichts kann das, was passierte, wieder gutmachen, ausser zwei Donum Land in Beit Nabala. Welche Lösung soll ich akzeptieren, ausser nach Beit Nabala zurückzugehen und zu leben wie jeder andere Mensch?»
Dann reden Mahmud und Mohammed, zwei junge Universitätsabgänger und Fatah-Aktivisten. Mahmud: «Über die Flüchtlingsfrage haben sie sich in Camp David bereits geeinigt. Der Streit über Jerusalem ist nur Kosmetik. Bloss damit wir denken, wir hätten auch etwas erreicht. Von den Flüchtlingen werden sie einige tausend zurückkehren lassen. Den Rest werden sie entschädigen.»
Erwarteten die Leute im Lager etwas von Camp David?
«Nein, nichts. Die Leute hoffen nichts mehr. Es geht nicht um Erwartungen, es geht um Hoffnung. Wenn du Hoffnung hast, kannst du auch etwas erwarten. Aber hier ist die Hoffnung verloren.»
Beit El ist gross
Warum denkst du das?
«Die Behörden kümmerten sich nicht um die Leute hier.» Mohammed unterbricht: «Nein, es ist wegen der Israeli. Die werden in nichts einwilligen, was die zahlenmässige Überlegenheit der Juden in Israel in Gefahr bringen könnte. Darum lassen sie uns nicht zurückkehren.»
Mahmud: «Ich weiss, und deshalb sind sie auch einverstanden damit, 95 Prozent der Westbank und des Gazastreifens aufzugeben. Wir geben dafür die Rechte der Flüchtlinge auf. Sie sagten Arafat, wir verzichten auf die Siedlungen, wenn du dafür auf die Flüchtlinge verzichtest. Und wenn Arafat nach Ramallah fliegt, sieht er die Siedlung Beit El und denkt, die ist aber gross. Wenn die Beit El aufgeben, muss ich schon auch etwas aufgeben.
Es ist keine Lösung für die Flüchtlinge in Sicht. Der Traum von einer Rückkehr ist aus. Es wird bloss Entschädigungen geben. Das ist alles. Sie werden ein wenig Geld verteilen.»
Erhofft ihr etwas von einem palästinensischen Staat?
Mahmud: «Das wird viel helfen. Man wird Palästina wenigstens als Staat behandeln, von dem einfach noch ein Teil besetzt ist. Dann hat Palästina eine Grenze, einen Hafen, einen Flughafen. Das wird helfen.» Mohammed: «Aber für dich selbst, hier im Lager, das fragt er doch!» Mahmud: «Für mich, für das Lager wird sich nichts verbessern. Ich weiss nicht, ob wir das, was wir tatsächlich wollen, nur durch Krieg erreichen könnten. Aber wir können ja nicht gegen die Israeli kämpfen. Die haben die Waffen, nicht wir. Und 1948, als die Leute den Teilungsplan der Uno für Palästina nicht akzeptierten, haben sie den grössten Teil des Landes verloren. 1967 konnten sie einen anderen Plan nicht akzeptieren, und sie verloren den Rest des Landes. Wenn wir jetzt das 95-Prozent-Angebot für Westbank und Gaza nicht akzeptieren, dann habe ich Angst, dass sie nie mehr gehen werden.»