Palästina: Eine Geografie der nicht besetzten Gebiete: Die Geschichte von David und Monther
Die Intifada nimmt der Fiktion das Imaginäre: Sie schafft einen Schauspieler, der sich selber spielt, einen Filmer, der sich selber filmt, und Verräter, die vielleicht gar nichts verraten haben.
Kaum ein anderer nationalstaatlicher Konflikt der Moderne produzierte eine solche Menge an Resolutionen, Verhandlungen, Kriegen, Vereinbarungen, Hoffnungen und Verzweiflung wie der arabisch-israelische Konflikt. Man beginnt zu glauben, dass es nichts gibt, was nicht schon diskutiert worden wäre, kein Szenario, das nicht schon gedacht, keine Methode, die nicht schon angewandt worden wäre. Wo sollen wir bloss noch Hoffnung hernehmen?
Zu Kriegszeiten versuchten beide Seiten alles. Giftmorde, Autobomben, Flugzeugentführungen, Häuserzerstörungen, Ausschaffungen; Sprengstoff, der in Unterwäsche angebracht wurde, in Mobiltelefonen oder Autos. So viele PalästinenserInnen und Israeli mussten sterben. So viele Männer, Frauen und Kinder müssen in den Leiden dieses Krieges und dieses Friedens leben.
Geregelter Jogurtimport
Zu Friedenszeiten wurde alles ausdiskutiert, bis hinunter zu Jogurt: Welche Sorten dürfen die PalästinenserInnen importieren und woher? In einem Abkommen existiert ein Paragraf, der das Maximalgewicht eines Paketes definiert, das bei der palästinensischen Post aufgegeben werden darf. Ab hundert Gramm Gewicht müssen PalästinenserInnen zur israelischen Post gehen. Am jordanisch-palästinensischen Grenzübergang bleiben die Israeli präsent, hinter Einwegspiegeln. Ein israelischer Offizier sitzt hinter einem solchen Spiegel, hinter einem palästinensischen Offizier. Die Reisenden stehen in der Schlange, um ihren Pass prüfen zu lassen. Sie können den israelischen Offizier nicht sehen, aber sie werden von ihm gesehen. Ich wünschte nur, sie würden diese Methode auch anderswo anwenden.
Also, wenn alles bereits diskutiert, verhandelt und ausprobiert wurde, wo sollen wir dann noch Hoffnung suchen? Wo können wir Durchbrüche und Änderungen erwarten?
Es fällt auf, dass in diesen Zeiten mehr und mehr Menschen religiös werden. Die Moscheen sind voll. Kinder, junge Männer und Frauen genauso wie ältere Leute, Reihe um Reihe, alle kniend und zu Gott flüsternd. Die Moschee ist der intimste öffentliche Raum in Palästina. Sie bietet Trost und bekräftigt die Identität. Die Menschen werden zurückgeworfen auf ein viel radikaleres und beinahe existenzielles Gefühl von Feindschaft zwischen Juden und Muslimen oder AraberInnen. Darüber muss man nicht mehr nachdenken, es wird zum Glauben. Die meisten Menschen finden ihr Heil darin.
Sie richten sich auf am Reich der Opferbereitschaft. Märtyrertum ist ein Herzstück des muslimischen Glaubens. Diese Flamme verlöscht nie. Sie würden jederzeit sterben, um ihre Würde zu bewahren. Und hei, es passieren wirklich viele Demütigungen hier, wirklich viele Demütigungen.
PolitikerInnen schaffen Interpretationen, AutorInnen und KünstlerInnen erschaffen neue Formen für den Konflikt und seine Lösung. Ich glaube, viele Menschen erleben es am Bildschirm sehr nahe mit. Die Nachfrage nach Satellitenschüsseln und Internet dürfte riesig sein in diesen Zeiten.
In einer Zeitung las ich vor einigen Tagen, dass die Israeli «dazu neigen, mehr zu essen, mehr zu reisen und mehr einzukaufen» –, eine Möglichkeit, der «Kriegsdepression» zu entgehen. Ich gebe zu, dass ich jede Begegnung mit Israeli meide, seit die Intifada begonnen hat. Ich kann deshalb eigentlich nichts darüber sagen, wie die Israeli diese Zeit erleben. In letzter Zeit begegnete ich nur ihrer militärischen Macht. Ich fuhr nie mehr nach Tel Aviv, um Sushi zu essen; oder ins Zentrum Jerusalems, um bei Shanka einen Drink zu nehmen oder in der Cinématheque einen Film zu sehen. Obwohl ich diese Orte mag.
Ich ging nicht mehr hin. Die meiste Zeit während der Intifada verbrachte ich damit, an einem Film zu arbeiten und vom Gedanken an den nächsten Film besessen zu werden. So drehte ich einen Kurzfilm, scheinbar eine Fiktion, doch eigentlich eine wahre Geschichte, über die die Presse berichtete und die jede Fiktion über den arabisch-israelischen Konflikt übertrifft.
Der Filmer im Film
Ich drehte «Looking Awry» («Mit schiefem Blick») als Parodie auf Dokumentar- und Spielfilme und als Mischung aus beiden. Ein palästinensischer Regisseur wird von einer westlichen Organisation beauftragt, einen Film über Jerusalem zu machen. Gewünscht ist ein Dokumentarfilm über Jerusalem als Stadt der Toleranz und Liebe, über eine multikulturelle Stadt, einen Tempel für alle Religionen.
Der Regisseur – ich spiele dabei mich selbst – versucht, diese Vision zu verwirklichen, doch er verrennt sich dauernd in absurde Situationen. Er versucht, sein Objektiv von Soldaten oder Gewalt freizuhalten, doch es gelingt ihm selber nicht, ihnen auszuweichen. Je mehr er sie leugnet, desto stärker kriecht die Realität an ihn heran, bis schliesslich ein Mitglied des Filmteams, das von Anfang an euphorisch mit dabei war, in der Intifada getötet wird. Auch das ist nicht nur Fiktion.
Ich heiratete am 22. September 2000. Tamam und ich verreisten nach der Hochzeit für eine Woche und kamen am 28. September zurück; am ersten Tag der Intifada. Kaum angekommen erfuhren wir, dass Osama in dieser Nacht von den Israeli getötet worden war. Osama war für Tamam und die ganze afrikanische Gemeinschaft in der Altstadt Jerusalems der liebste junge Mann. Wir wurden überwältigt von einem Nebel von Traurigkeit, der bis heute anhält wegen all dem Töten und der Zerstörung, die Osamas Tod noch folgten. Musa spielte Osama in meinem Film.
Musas Geschichte ist ebenfalls wahr. Seit ich ihn kenne, will er Schauspieler sein. Im Scherz fragte er mich immer und immer wieder nach meinem nächsten Film. Ich mag Musa, und ich glaube, er hat Talent. Ausserdem ist er ein lustiger Typ und bringt die Leute zum Lachen. Also spielt er im Film sich selbst: einer, der in einem Film mitmachen will. Für Musa spielt es keine Rolle, ob das echt oder fiktiv ist, er spielt einfach.
Als Osama wurde er am ersten Tag der Intifada getötet. Bevor er von den Dreharbeiten wegging – in dem Moment, als er vom Besuch Ariel Scharons in der Aqsa-Moschee erfuhr –, sagte er im Film zu mir: «Du sagst doch immer, dass du einen Dokumentarfilm drehen willst. Warum gehst du nicht auch hin zur Aqsa-Moschee? Das ist der beste Dokumentarfilm, den du machen kannst!» Er sagte die Wahrheit.
Er ging, und danach begreifen wir, dass er gestorben ist. Da erst wurde ich mir über die Unmöglichkeit meiner Aufgabe klar. Ich rief David, den amerikanischen Produzenten, an und sagte, dass ich seinen Film nicht fertig drehen kann. Der Film, den er machen wollte, scheine mir eine Fiktion und nicht dokumentarisch zu sein. Ich sagte ihm auch, dass ich wünschte, gerade jetzt meinen eigenen Film zu machen. Als ich den Film schliesslich in meiner Form vollendete, fantasierte ich schon über den nächsten.
Der nächste Film
Die Geschichte ist wahr. Sie wurde im letzten Monat bekannt, als die palästinensischen Sicherheitsdienste zwei Männer verhafteten, nämlich David, einen jüdischen Doktor, der in einer jüdischen Siedlung namens Alon Moreh in der Nähe der palästinensischen Stadt Nablus wohnt; und Monther, einen Palästinenser, der im Flüchtlingslager Balata bei Nablus lebt. Die beiden Männer wurden verdächtigt, Spione der israelischen Sicherheitskräfte zu sein.
Nach einigen Tagen schroffer Befragung liessen sie David wieder frei. Er musste sich in einem Spital behandeln lassen. Dort wurde auch bekannt, dass die beiden Männer Halbbrüder sind. David Marsilia und Monther al-Hafnawi sind Söhne von Fawziya as-Samman, einer syrischen Jüdin, die heute im Lager Balata lebt und 76 Jahre alt ist.
Fawziya heiratete Izzat Malik, einen syrischen Juden, der in den fünziger Jahren kurz nach der Geburt des ersten Sohnes, Nizzar, verstarb. Sie lebten damals im Libanon, und Fawziya blieb dort. Einige Jahre später traf sie Mohammed al-Hafnawi, einen palästinensischen Flüchtling, der Verwandte im Libanon besuchte. Sie verliebten sich und heirateten, nachdem Fawziya zum Islam konvertiert war. Sie lebten im libanesischen Tripolis, bis Hafnawi 1972 von den israelischen Behörden die Erlaubnis zur Rückkehr erhielt aufgrund eines Gesuches um Familienzusammenführung.
Hafnawi, Fawziya und ihr Sohn Monther zogen ins Lager Balata, und Nizzar ging nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Er blieb in Kontakt mit seiner Familie. Etwa 1995 erkrankte er schwer. Sein Bruder Monther lud ihn ein, zu seiner Familie zu kommen, und bot ihm Pflege an. Nizzar begann, seinen Umzug zu planen, und stiess auf grossartige Angebote für JüdInnen, die nach Israel auswandern wollen. Ein Haus in einer Siedlung war günstig zu bekommen, und so entschied er sich dafür. Er zog um, änderte seinen Namen in David Marsilia und liess sich in der Siedlung Alon Moreh nieder, in der Nähe des Lagers Balata.
Der Siedler im Flüchtlingslager
Februar 2001, die Intifada geht in ihren sechsten Monat. Die israelischen Repressionskräfte wenden öffentlich und stolz die Methode an, palästinensische Aktivisten umzubringen. Jeder dieser Morde konnte nur mit Hilfe lokaler Spione begangen werden. Diese Gruppen von Kollaborateuren flogen in den meisten Fällen auf, einige Kollaborateure wurden exekutiert. Die palästinensischen Behörden setzten Kollaborateuren eine Frist von 45 Tagen, um sich zu stellen.
Am 21. Februar wurde ein Mitglied der islamistischen Hamas-Bewegung nach israelischer Art ermordet, am Eingang zum Lager Balata. Die palästinensischen Sicherheitsdienste verhafteten einige Tage darauf Monther al-Hafnawi und noch ein paar Tage später dessen Bruder David. Zusammen mit einem Ägypter mit israelischem Pass wurde den beiden vorgeworfen, einen Ring von Kollaborateuren zu unterhalten.
David kam unter der Auflage frei, bei seiner Mutter im Flüchtlingslager zu bleiben. Er hat nichts zugegeben und bestreitet jede Verbindung zu den israelischen Diensten. Monther blieb bis heute in Haft.
Dieses wahre Drama zeigt die menschlichen Aspekte des israelisch-arabischen Konfliktes besser als jede Fiktion. Die Geschichte dieser Familie spiegelt die komplexen und vielfältigen Stränge des Konflikts wider, praktisch in einer einzigen dramatischen Aktion. Die Handlung ist definiert durch die Bewegung von der Möglichkeit einer unmöglichen Liebe (Araber und Jüdin) hin zur Unmöglichkeit einer möglichen (Bruder-)Liebe.
Alles kommt auf den öffentlichen Raum an, der sich zunehmend feindselig gestaltet. Die Geschichte kann als Metapher gesehen werden für die Krise, die aus der negativen Dialektik des arabisch-israelischen Konfliktes resultierte. Eine Ökonomie der Negation wirkt, in der der Friede der einen Nation Terror für die andere bedeutet und die Sicherheit der einen die anderen einschüchtert und unterwirft.
Die Schönheit der Geschichte liegt darin, dass sie nicht nach den Regeln des politischen Spiels verläuft. Sie überschreitet diese zu einer tiefer liegenden Ebene der menschlichen Macht. Diese Macht unterwandert diese Regeln und sprengt die umfassenden Abläufe von Hass und Diskriminierung; seien sie national, religiös oder ethnisch.
Die mütterliche Kraft besiegt die ganze nationale männliche Macht und bringt David Marsilia dazu, sein komfortables Haus in der Siedlung zu verlassen und zu seiner Mutter in ein miserables Flüchtlingslager zu ziehen, und das in diesen Zeiten.
Die brüderliche Kraft wurde pervertiert und in ein grösseres Schema von Hass umgewandelt. Es spielt dabei keine grosse Rolle, ob die zwei Brüder den Methoden des israelischen Geheimdienstes anheim fielen oder ob sie dessen nur beschuldigt werden. Sie sind so oder so dort angekommen, wo sie sind; es ist bereits gedacht, auch wenn es nicht wahr sein sollte. Die beiden Brüder sind in beiden Fällen die Opfer des gleichen Terrors.
Deshalb gefällt mir die Geschichte, und ich möchte sie verfilmen. Denn sie lehrt uns etwas, das ausserhalb des Reiches der Ideologie und der politischen Interpretation liegt. Sie hält uns davon ab, in den Glauben zu verfallen, dass JüdInnen und AraberInnen Feinde sein müssen. Sie bewahrt einen sicheren Raum für gewisse menschliche Macht, und sie zeichnet die Landkarte für nicht besetzte Gebiete. Dort möchte ich leben, in nicht besetzten Gebieten.