Kroatien: Die Systemoppositionellen in den Wahlwochen

Bei den kroatischen Parlamentswahlen, welche mit dem Sieg der SozialdemokratInnen über die seit zehn Jahren herrschende Demokratische Union (HDZ) endeten, erwiesen sich erstmals auch die vielen kleinen oppositionellen Gruppen, die bisher gewollt oder ungewollt ausserhalb des politischen Systems standen, als unübersehbarer politischer Faktor. Unter dem Namen «Glas 99» (die Stimme 1999) organisierten StudentInnen und Frauengruppen, Gewerkschaften und RentnerInnenvereinigungen, Umwelt- und Friedensgruppen, insgesamt mehr als 145 Organisationen, eine gemeinsame Kampagne für freie und saubere Wahlen. «Das vorrangige Ziel unserer Kampagne», erklärt der 24-jährige Tin Gazivoda, einer der Aktivisten, «ist es gewesen, so viele Menschen wie möglich dazuzubringen, zur Wahl zu gehen. Wir informierten die BürgerInnen über ihr Wahlrecht, aber wir analysierten auch die Parteiprogramme und die Positionen, die die einzelnen KandidatInnen in ihren Kampagnen vertraten.»

«Glas 99» will bis zum nächsten Montag weitermachen. An diesem Tag fällt die Entscheidung über den künftigen Präsidenten des Landes (siehe«Nach dem Todeskuss für Arkan »). Die Tatsache, dass 78 Prozent der wahlberechtigten BürgerInnen Kroatiens am 3. Januar an die Urnen gingen, ist gewiss auch ihrer Kampagne gutzuschreiben. Erstmals haben diese vielen kleinen Gruppen auf nationaler Ebene eine aktive Rolle spielen können. Erstmals verliessen sie allerdings auch ihre oft selbst gewählten Nischen und bemühten sich darum, die politische Isolation zu durchbrechen.

Zeit wurde es: Die Wahlen für das Parlament und die Nachfolge des Ende letzten Jahres verstorbenen Präsidenten Franjo Tudjman sind richtungsweisend für das Land. Die zehn Jahre unter dem Autokraten Tudjman und seiner nationalistischen HDZ hatten wirtschaftlich und politisch katastrophale Folgen, die Mehrheit der Bevölkerung lebt am Rand der Verelendung. Noch so intensiv bediente patriotische Gefühle konnten nicht mehr die kriminelle Privatisierung vergessen machen, die Korruption in der Staatsspitze, die schlechten Löhne, die fehlenden Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als zwanzig Prozent, die Staatsverschuldung übersteigt zehn Milliarden Dollar, es fehlen Investitionen, und die Beziehungen zu europäischen Nachbarländern und zu internationalen Institutionen sind denkbar schlecht.

«Trotzdem wussten die Menschen nicht, was sie mit ihrer Unzufriedenheit anfangen sollten», sagt Tin Gazivoda, der gerade sein Politologiestudium abgeschlossen hat. «Der regierenden HDZ war es gelungen, in der Bevölkerung Aversionen gegen alle Politik zu wecken. Die von ihr kontrollierten staatlichen Medien sorgten dafür, dass alle Parteien gleichermassen schlecht aussahen. Und die Schlussfolgerung, die das Regime in dieser Situation anbot, war, dass es immer noch das Beste sei, mit denen weiterzukutschieren, die man bereits kannte.»

«Glas 99» widersetzte sich der Strategie der HDZ, die Menschen in die Passivität zu verabschieden. Selbst die Festlegung des Wahltermins auf den 3. Januar interpretierten «Glas»-Aktivisten als Versuch, dank der verbreiteten Katerstimmung nach dem Neujahrsfest eine möglichst geringe Wahlbeteiligung zu erreichen. Schneller als die mit der HDZ konkurrierenden Parteien durchschauten die kleinen Gruppen, die bisher politisch am Rand gestanden hatten, die Absicht der Regierungspartei. So konzentrierten sie alle ihre Kräfte auf die Propagierung der Wahlbeteiligung.

StudentInnen, Feministinnen, Rentner oder Umweltaktivisten – Tausende von Freiwilligen verbreiteten in ganz Kroatien Wahlaufrufe und Informationen über die KandidatInnen. «Glas 99» konzentrierte sich dabei besonders auf bereits abgestumpfte JungwählerInnen und lancierte Konzerte, Happenings und spezielle Wahlzeitungen. Ein Wahlspot mit den bekanntesten kroatischen Rockmusikern erregte Aufsehen, weil das Fernsehen ihn unter dem Druck der HDZ nicht ausstrahlen wollte und ihn erst nach einem Entscheid des im Namen der Kampagne angerufenen Verfassungsgerichts ins Programm nahm. – Eine Erhebung nach der Wahl ergab, dass «Glas 99» gerade unter den JungwählerInnen den grössten Erfolg hatte.

«Wir bemühten uns ständig um Provokationen», erzählt Tim Gazivoda. «Wir kritisierten nicht nur die HDZ sehr scharf, sondern auch die anderen Parteien. Und wir kennen die Sprache der normalen Menschen, der Jugendlichen, der Alten. So gelang es uns überall, Interesse an unserer Kampagne zu wecken und die Menschen ein bisschen aus ihrer jahrelangen Resignation zu reissen.»

Was immer in den nächsten Jahren unter der neuen sozialdemokratisch geführten Regierung und mit einer arg gerupften HDZ in der Opposition noch geschehen wird, zwei gewichtige Veränderungen in der kroatischen Gesellschaft können jetzt schon festgestellt werden. Zum einen haben die kleinen, regierungsfernen Gruppen bewiesen, dass sie in der Lage sind, eine breitenwirksame Kampagne zu organisieren, die den weiteren Kurs des Landes beeinflusst. Dies mussten alle anerkennen: die Partei des bisherigen Regimes, die bisherigen Oppositionellen und die Medien, die sich ausgiebig mit den Aktivitäten von «Glas 99» beschäftigten. Zum anderen haben sich aber auch die kroatischen WählerInnen verändert. Wohl zum ersten Mal begriffen sie, dass sie mit ihrer Stimme in der Politik wirklich etwas bewirken können, wenn sie jenseits von nationalistischem Kollektivismus als BürgerInnen über Profil und Programm einzelner Kandidaten entscheiden.