Landwirtschaft: Turnaround in Steinbach

Kleinräumige Wirtschaftskreisläufe sind ein Ausweg aus der Globalisierungsfalle.

Über der Bauernsame schwebt ein Fluch. Sie soll gesunde Lebensmittel produzieren und eine attraktive Kulturlandschaft erhalten – und mit diesen Vorgaben auf dem Markt bestehen. Weil das nicht funktioniert, wendet der Bund jährlich rund vier Milliarden Franken Subventionen auf; Subventionen, die immer stärker unter Druck geraten. Die Bauern und Bäuerinnen sind gezwungen, ihre Höfe wirtschaftlicher zu betreiben - oder aufzugeben. Rund 3200 Betriebe sind zwischen 2000 und 2002 eingegangen. Gegen das Malaise und das Jammern der Bauernverbände empfiehlt die Politik ökonomische Rezepte («mehr, schneller, grösser, rationeller»). Auch der internationale Druck auf die Schweizer Landwirtschaft ist enorm. Die Länder des Südens fordern im Rahmen der Welthandelsorganisation eine Öffnung der Märkte für ihre Agrarprodukte.

Nahversorgung ist Lebensqualität

Dass Ansätze mit dem Ziel, die regionalen Wirtschaftskreisläufe zu stärken, aus Österreich stammen, ist kein Zufall. Seit dem EU-Beitritt ist dort der Marktdruck um einiges höher als in der Schweiz. Zudem ist dort das Hinterland stärker sich selbst überlassen. Provinz bedeutet in Österreich wirklich Provinz. Der Soziologe Johann Millendorfer hat diesem Milieu eine in einem Satz zusammengefasste Bewusstseinskur verordnet: «Ihr seid nicht die Letzten von gestern, sondern die Ersten von morgen, denn die Zukunft der Industriegesellschaft entscheidet sich im ländlichen Raum.» Millendorfer stützt sich vor allem auf christliche Werte, auf die Rücksichtnahme auf Mensch und Umwelt. Eine Wirtschaftsentwicklung ohne Ethik, Umwelt- und Sozialkompetenz sei nicht nachhaltig, postuliert Millendorfer. Deshalb stehe die Bewusstseinsbildung im Mittelpunkt. Millendorfers Überlegungen führten zur Gründung der Studiengesellschaft für Projekte zur Erneuerung von Strukturen (SPES). Bei ihrem Projekt «Nahversorgung ist Lebensqualität» konnte sie sich auf Erfahrungen stützen, die Gemeindepräsident Karl Sieghartsleitner – von Millendorfer beeinflusst – bei der Wiederbelebung des oberösterreichischen Dorfes Steinbach an der Steyr gemacht hatte. Steinbach stand in den achtziger Jahren vor dem Ruin, als die einzige Fabrik – eine Messer- und Besteckfirma – ihre Produktion einstellte. Sieghartsleitner setzte auf eine werteorientierte Entwicklung. Am Anfang des Prozesses stand nicht ein Marketingkonzept, sondern eine Grundsatzdiskussion mit dem Ziel, die politischen Unterschiede zugunsten verbindlicher Regeln zurückzustellen. Gestützt auf diesen Konsens wurde eine Vision ausgearbeitet sowie ein Entwicklungskonzept, das die regionalen Ressourcen in den Vordergrund stellt. Inzwischen hat Steinbach die Trendwende geschafft und gilt als Vorzeigebeispiel.

Feld und Wald nutzen

Von der Entwicklung profitieren auch die Bauernfamilien. In den letzten fünfzehn Jahren mussten nur zwei Höfe aufgeben. Die anderen wurden darin unterstützt, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen: den umfangreichen Obstbaumbestand, die vielen Obstsorten und den Wald. Vier grosse Holzschnitzelheizungen sorgen dafür, dass 300 Hektaren Bauernwald wieder profitabel bewirtschaftet werden können. Man lasse sich nicht mehr einreden, dass alle Bauernhöfe zu klein seien, wird Sieghartsleitner in einem Dossier des Landwirtschaftlichen Informationsdienstes Lid (www.lid.ch) zitiert. Sieghartsleitner trat 2002 als Gemeindepräsident von Steinbach zurück und hat heute unter anderem einen Lehrauftrag im Rahmen des Nachdiplomstudiums Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern.

Rund 150 Gemeinden in Oberösterreich und in Bayern, aber auch in Vorarlberg und in Baden-Württemberg, haben ihre Entwicklung inzwischen auf eine ähnliche Basis gestellt. Und auch in der Schweiz beginnt man sich dafür zu interessieren. Viele dieser Überlegungen finden sich inzwischen in der Agenda 21 zur nachhaltigen Entwicklung. Der Journalist Hanspeter Schmutz hat Steinbach besucht und ist überzeugt, dass die dortigen Ansätze sich auch auf die Schweiz übertragen liessen: «Zwischen Steinbach und einem Dorf im Emmental gibt es keinen grundlegenden Unterschied.» In der Werteorientierten Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung (WDRS) sieht er eine Möglichkeit, den Menschen im ländlichen Raum ein neues Selbstbewusstsein zu vermitteln. Erste Gespräche mit Vertretern von zwölf Dörfern hat er bereits geführt.

Die Idee, dass regionale Wirtschaftskreisläufe ein starkes Gegengewicht zu den globalisierten Märkten sein könnten, ist überzeugend. Bauern und Bäuerinnen, die weder auf forcierte Produktion setzen noch wegen der Landwirtschaftspolitik des Bundes ihren Hof aufgeben wollen, müssen ein Interesse daran haben, dass diese Regionalisierungsüberlegungen in der ländlichen Schweiz Fuss fassen. Vielleicht wäre damit der Fluch zu bannen.

Schwein vor Schwimmbad

Die Landwirtschaft sei eine «vertrocknete alte Hure», schrieb der Genfer Anwalt Charles Poncet, Mitglied der Liberalen Partei, in einem «Offenen Brief» an Fernand Cuche, Bauer und Nationalrat der Grünen Partei. Bauern seien unproduktiv und überflüssig, sie verschwendeten gutes Land und hingen «wirtschaftlich am Rockzipfel ihrer Mitbürger». Ihr «ewig weinerliches Kläffen» sei geradezu obszön, und überleben könnten sie nur, weil eine «Verschwörerbande» im Parlament sie subventioniere. Die in «L'Hebdo» publizierte Polemik schlug in der Romandie wie eine Bombe ein. Der Waadtländer Weinbauer Noé Graff reichte postwendend Klage wegen Beleidigung, Lüge und Aufruf zum Hass gegen eine Bevölkerungsgruppe ein. Die Bauerngewerkschaft Uniterre rief zur Demonstration vor Poncets Anwaltsbüro auf. Doch wider Erwarten wurde dort nicht Mist deponiert – «Mist ist für einen so profunden Kenner der Landwirtschaft zu kostbar», erklärte Fernand Cuche –, sondern eine Statue zu Ehren eines «mutigen und gerechten Menschen, der die Völker von der Tyrannei der Bauern befreite». Die Statue entpuppte sich als goldenes Schwein; es trug an seinen Ohren ein Poncet-Porträt, auf dem man den um kostbare Landreserven besorgten Anwalt in seinem bescheidenen Anwesen vor Schwimmbad und 13-Zimmer-Villa abgebildet sieht.

Hélène Hürlimann