«Notre Musique»: Kein Bild zurück
Jean-Luc Godard hat eine bitterböse Tragödie gedreht, die sich strukturell an Dantes «Göttliche Komödie» anlehnt.
Endlich. Ein einfacher Godard. Ein Godard, den man nacherzählen kann. Den man klassisch nennen, für den man Vorbilder finden kann. Sofort hat die internationale Filmkritik ihm den Grossen Preis zugesprochen (der zwar undotiert ist), und sie jubelt quer durch den Blätterwald.
Aber irgendwie wird man den Eindruck nicht los, dass sie eher das eigene Verstehen bejubelt als den Film, der tatsächlich schnell erzählt ist: In Hölle, Purgatorium und Himmel hat Jean-Luc Godard seinen Film eingeteilt, klar wie Dante Alighieri seine «Göttliche Komödie». Der erste Abschnitt umfasst gut zehn Minuten, wir sehen eine Art Kompilation des Kriegsgrauens quer durch die Filmgeschichte: Dokumentarische Aufnahmen wechseln mit Spielfilmen. Das Ganze hat einen kecken Rhythmus, die Musik peppt die Bilder zusätzlich auf. Die Gleichung scheint klar: Krieg ist die Hölle. Danach geht es ins Fegefeuer, Sarajevo im Jahr 2003. Und wie bei Dante der junge Dichter den alten Vergil zum Führer nimmt, scheint der Regisseur Godard nun eine junge Journalistin zu geleiten. Man trifft sich am Flughafen, man beschliesst, sich in der abgebrannten Bibliothek wiederzusehen, zum Schriftstellerkongress. Juan Goytisolo gibt den Bibliothekar, eine israelische Journalistin interviewt den palästinensischen Autor Mahmud Darwisch, namenlose amerikanische Ureinwohner beschweren sich darüber, dass niemand ihre Geschichte schreibt. Ein Ausflug nach Mostar steht auf dem Programm sowie ein Sektempfang in einer Botschaft, schnell doziert Godard noch selbst vor StudentInnen über Schuss und Gegenschuss – und schon kehren alle mit dem Flieger zurück nach Hause. Der Film hingegen wendet sich dem Himmel zu, und der ist, wie in der Hymne der amerikanischen Marines, tatsächlich von hübschen Kerlen in Matrosenuniformen bewacht. Hier landet die israelische Journalistin, nachdem sie ein Selbstmordattentat verübt hat, und teilt sich mit einem Adam einen Apfel. Ein neuer Sündenfall?
Nichts ist eindeutig, und Godard hat seinen Film weit komplizierter gestrickt, als es scheint. Zunächst ist die Hölle nicht einfach der Krieg – Godard wäre nicht Godard, wüsste er nicht, dass es tatsächlich die Bilder des Krieges sind, die er uns serviert. Leichenberge hier, verhungerte Kinder dort, dazwischen ästhetische Reiter mit ihren Flaggen aus Akira Kurosawas «Ran», dann wieder schweres Kriegsgerät, Panzer, Flugzeuge, U-Boote. Wie Fetzen, die wir von jedem Fernsehabend in Erinnerung haben, wirft er sie uns zum visuellen Frass vor. Die – deutlich digital abgenommenen – Ausschnitte türmen sich zu einem Videoclip, den Godard mit vier verschiedenen Musikstücken unterlegt. Diese Hölle ist nicht die Hölle des Krieges, es ist unsere Hölle, die der unbeteiligten Betrachter. Denn eigentlich sehen, begreifen wir nichts, zu schnell sind die Bilder wieder verschwunden. Wir, so will uns Godard scheinbar – und ganz anders als Dante, der in seinen präzisen Schilderungen, in seinen endlosen Versen wirklich an das Böse rührt – vorführen, verstehen die Hölle nicht.
Anders das Fegefeuer. Strassenaufnahmen in Sarajevo. Immer wieder fahren Trams durchs Bild, sie haben kräftige Farben: gelb, rot, blau. Schriftzüge sind zu erkennen. Menschen, die sie benutzen, und Menschen auf einem Markt, die wir erst sehen, nachdem das Tram weggefahren ist. Strassen, auf denen bis vor kurzer Zeit noch Heckenschützen unterwegs waren. Jetzt kann man wieder mit dem öffentlichen Verkehr fahren, es zielen nur noch die Kameras. Eingewoben in diese alltäglichen Aufnahmen ist die Geschichte der israelischen Journalistin. Sie ist hergekommen, weil sie an einem friedlichen Ort sein wollte. Jetzt kann sie sich die kaum verheilten Wunden der Stadt, die Narben auf den Seelen der Menschen und die nummerierten Steine anschauen, die einst die Brücke von Mostar bildeten. Aber sie interessiert sich auch für Geschichte, bedankt sich beim Botschafter, der einst ihre Mutter vor der Deportation und dem Tod gerettet hat, sie streitet sich aber auch mit dem palästinensischen Schriftsteller.
Und wie alle fiktiven Gestalten bei Godard liest sie: Julien Green und Emmanuel Lévinas, den Holocaust-Überlebenden und bekanntesten französischen Ethiker. Er schrieb, dass erst das Erkennen des Antlitzes des anderen uns zu Menschen macht, doch das hat die Journalistin offenbar nicht verstanden. Die Gestalten mögen wie bei Dante im Purgatorium der Gnade und der Erlösung harren, aber in «Notre Musique» gibt es die nur ganz, ganz selten und dann eher in den Bildern als in der Geschichte. Denn jetzt hat die Kamera Zeit zu schauen, sie kann ein Gesicht einer Schülerin beobachten oder das schöne Madonnenantlitz der Journalistin. Und sie kann uns zeigen, dass es manchmal nichts zu sehen gibt, wie etwa dann, wenn Godard doziert. Er sitzt der Kamera frontal gegenüber, aber eine grelle Lampe gleich über seiner Schulter verwehrt uns den Blick. Oder der Meister zeigt uns in einer langen Einstellung gleich seinen Rücken, doch jetzt können wir die Bilder sehen, die er betrachtet. Wie zeigt man einen Mann? Wie eine Frau? Wie repräsentieren sich die Israelis in Spielfilmen? Wie die Palästinenser in Dokumentarfilmen? «Monsieur Godard, kann die neue Digitaltechnik das Kino retten?» Der Meister schweigt.
Wunderbar zynisch wird «Notre Musique» aber, wenns in den Himmel geht. Wie bei Dante hat nun der Führer Vergil/Godard den Dichter/die Journalistin verlassen. Sanftes Licht zwar und hübsche Buben, aber: «Sans éspoir de retour», ohne Hoffnung auf Rückkehr, lesen wir auf einem Buchumschlag. Im Paradies leben keine Engel, sondern Gefangene, bewacht von US-amerikanischen Marines. So gesehen, wäre Guantánamo der Himmel auf Erden. Ist das die bittere, ewige Klarheit, die der Dichter sucht? Oder hat er sie schon in seinem Garten am Genfersee gefunden, den Godard selbst im Film kultiviert wie einst Jean-Jacques Rousseaus «Candide»? Wie immer hat Godard mehr Fragen als Antworten gefunden.
Notre Musique. Regie: Jean-Luc Godard. CH/ F 2003