Close-up: Von Angesicht zu Angesicht

Nr. 3 –

Wenn Gesichter zu Landschaften werden, in die man eintauchen möchte: Eine Hommage an die Grossaufnahme.

Wenn sich in John Fords «Stagecoach» (1939) der Cowboy der Postkutsche in den Weg stellt, eilt die Kamera auf dessen Gesicht zu, und für einen Moment verschwimmt das Bild und stellt sich erst wieder scharf, als wir John Waynes Antlitz direkt vor uns haben. Es ist, als würde man sich die Augen reiben oder blinzeln, wie wenn man aus dem Dunkel plötzlich in gleissendes Sonnenlicht tritt. Das Auge muss sich erst an die extremen Sichtverhältnisse gewöhnen.

Die Grossaufnahme, so führt uns diese Szene vor, ist ein Schock, eine Überforderung. Gerne vergessen wir vor unseren mickrigen TV- und Computerbildschirmen, wie überwältigend die Gesichter des Films sind, wenn man sie auf jenen riesigen Kinoleinwänden sieht, wo sie eigentlich hingehören. Überlebensgross drohen sie uns zu verschlingen, so wie Orson Welles’ riesiger Mund, als er zu Beginn von «Citizen Kane» (1941) sein «Rosebud» murmelt. Und wir können uns fragen, was hier enigmatischer ist: das geheimnisvolle Losungswort oder nicht vielmehr das riesige Gesicht selbst. Welles soll nach eigenen Angaben zur Vorbereitung seines Erstlings einen Monat lang jeden Tag «Stagecoach» angeschaut haben. Das ist den virtuosen Grossaufnahmen von «Citizen Kane» anzusehen – «Stagecoach» ist diesem Film ins Gesicht geschrieben, buchstäblich.

Die maximale Potenz des Kinos

Das Gesicht sagt mehr als tausend Worte – ein Klischee gewiss, aber es stimmt wohl nirgends so sehr wie im Kino. «We didn’t need dialogue. We had faces!», sagt die einstige Filmdiva Norma Desmond in Billy Wilders «Sunset Boulevard» (1950). Mit der Grossaufnahme des Gesichts entfaltet das Kino seine maximale Potenz und droht dabei zugleich selbst zu verglühen, wie am Ende von Wilders Film, wo das Bild sich auflöst, als Norma Desmond mit den Worten «I’m ready for my close-up» allzu nah an die Kamera herantritt.

In der Grossaufnahme kommt das Medium an seine Grenzen, es wird ein anderes. Als «Fusions-, Siede-, Verdichtungs- oder Gerinnungspunkte» beschreibt denn auch Gilles Deleuze jene «Affektbilder» von Gesichtern. Im Affektbild der Grossaufnahme wird die sonst so eiserne Logik von Handlung und Ort ausgesetzt. «Das Affektbild ist von Raum-Zeit-Koordinaten, die es an einen bestimmten Zustand binden könnten, abgelöst», heisst es bei Deleuze, und es hört sich wie Science-Fiction an. Wenn der Astronaut im finalen Akt von Kubricks «2001. A Space Odyssey» (1968) über die Grenzen von Raum und Zeit hinausrast, zeigt uns der Film im Gegenschnitt zu den psychedelischen Ansichten aus der Kapsel prompt das Gesicht des Reisenden in Grossaufnahme.

Die Szene dreht freilich nur ins Grandios-Kosmische, was schon in den Kammerspielen Ingmar Bergmans unentwegt geschieht. Auch dort implodieren Raum und Zeit, wenn wir in «Persona» (1966) in die Gesichter von Bibi Andersson und Liv Ullmann eintauchen und schliesslich gar deren Verschmelzung beiwohnen. In der Möglichkeit, dem menschlichen Gesicht des Menschen näherzukommen, liege die ursprüngliche und wesentliche Eigentümlichkeit des Films, meinte Bergman. Das aber ist es, was seine Filme zugleich so nachhaltig verstörend macht. Gebannt von den oft direkt in die Kamera blickenden Gesichtern, verlieren wir unrettbar die Orientierung. Wenn in «Wilde Erdbeeren» (1957) oder «Die Stunde des Wolfs» (1968) Traum und Wachen ineinander übergehen, so sind die Gesichter die «Fusions-, Siede-, Verdichtungs- oder Gerinnungspunkte» dieses Prozesses. Noch ein halbes Jahrhundert später und in offensichtlicher Nachfolge von Bergman tut ein Regisseur wie Jonathan Glazer in der atemberaubendsten Szene seines Films «Birth» (2004) nichts anderes, als auf dem Gesicht Nicole Kidmans zu verharren – und schon beginnt alles zu zerfallen, was wir und die Figur für gültig hielten.

Der Bub und die Lupe

«Das Antlitz ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; es ist das Unenthaltbare, es führt uns darüber hinaus», heisst es bei Emmanuel Lévinas. Kein Wunder also, muss das Kino, wo es nicht einfach beim schieren Erzählen stehen bleiben will, Gesichter in den Vordergrund rücken. Die Gesichter des Films, gerade weil sie die Logik einer stringenten Handlung aushebeln, führen vor, zu wie viel mehr das Kino fähig ist.

Das gilt auch im Schweizer Film. So zeigt sich Kurt Frühs Ausbruch aus dem Rahmen seiner vorherigen Filme in seinem «Dällebach Kari» (1970) etwa darin, wie er unentwegt Gesichter ins Bild rückt, allen voran das hasenschartige Antlitz seiner von Walo Lüönd gespielten Hauptfigur. Und auch in einem schweigsamen Film wie Fredi Murers «Höhenfeuer» (1985) spielt sich alles in den Gesichtern ab. Wenn der taubstumme Bub zu Besuch bei den Grosseltern ist, nimmt er die Lupe, um das Gesicht des Grossvaters zu betrachten. Murer zeigt uns die so entstehenden, seltsam entstellten Ansichten als Metapher für die eigene Filmtechnik. Kino macht genau das: mit geschliffenen Gläsern Gesichter erforschen, damit sich in ihnen freistellen möge, was man mit blossem Auge nicht sehen kann. Später wird der Bub durch ein Rohr in die Landschaft gucken und dabei seine Schwester (gespielt von Johanna Lier) entdecken. Er macht Close-ups mit primitiver Apparatur und fatalem Effekt: Die optische Isolierung setzt das Begehren in Gang.

Wie eine Mücke auf der Haut

So kann auch ein Visionär wie Thomas Imbach in «Happiness Is a Warm Gun» (2001) nicht anders, als die obsessive Liebesaffäre zwischen der Friedenskämpferin Petra Kelly und ihrem Lebensgefährten Gert Bastian in extremen Affektbildern zu erzählen, in denen man immer viel zu nahe an den Gesichtern dran zu sein scheint. Mit einer mobilen Kamera, die sich wie eine Mücke auf die Haut der Darstellerin, des Darstellers setzt, erscheinen die Wimpern eines Auges selbst wie die Fühler eines enormen Insekts, und die Poren werden zu Kratern. Man will in die Gesichter hinein, das Begehren drängt einen dazu. Prompt wird am Ende der Mann seiner Geliebten eine Kugel durch den Kopf jagen und sich selber auch.

Die Faszination des Films für das menschliche Gesicht ist so latent auch eine gewaltsame. Daher wohl auch die anhaltende Beschäftigung des Kinos mit Gesichtsräubern und Entstellten: von «Frankenstein» (1931) über «Les Yeux sans Visage» (1960) bis «Face/Off» (1997). Und in Jean-Luc Godards «Pierrot le Fou» (1965) wickelt sich Jean-Paul Belmondo am Ende einen Dynamitgürtel um den Kopf, um sich das Gesicht wegzusprengen. In gewisser Weise hat das Kino dies immer schon getan: die Gesichter von den Schauspielern ablösen, um sie als eigenwillige Affektbilder auf die Leinwand aufzuspannen – von Ansicht zu Ansicht, von Angesicht zu Angesicht.

Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler und schreibt als freier Autor unter anderem für die NZZ und das «Filmbulletin». Er lebt in Winterthur.