Party vor dem Parlament

Rockbands und Theatertruppen haben die Botschaft der Opposition schon vor Milosevics Fall in die hintersten Winkel der Republik Jugoslawien getragen – mit Erfolg.

Am Abend des fünften Oktober ereignete sich im Stadtzentrum von Belgrad etwas, was wenige Tage zuvor undenkbar gewesen wäre: Auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude fand eine Technoparty statt. Während noch immer dunkle Rauchwolken aus den Fenstern des Regierungssitzes auf die Strasse drangen, feierten die Menschen die unblutige Revolution, den Anfang einer neuen Ära in der Geschichte Jugoslawiens.
Zufällig anwesende Fremde hätten in jener Nacht Serbiens neuem Gesicht begegnen können: einem lächelnden, optimistischen Gesicht. Ein Mädchen schwenkte auf einem mit Lautsprechern voll gepackten Lastwagen einen Schlagstock – kein Techno-Requisit, sondern einen echten Knüppel der gefürchteten Belgrader Polizei. Viele Polizisten hatten sich Stunden zuvor freiwillig den Scharen angeschlossen, die aus allen Ecken und Enden des Landes nach Belgrad geströmt waren, um den Wahlsieg der Opposition zu verteidigen. Nachdem das Parlamentsgebäude und das staatliche Fernsehen – des Regimes wirksamste Propagandamaschine – eingenommen worden waren, hatte sich die Angst der Menschen vor Gewalteskalationen in einer wahren Explosion der Begeisterung entladen. In Belgrad wurde eine Nacht lang Karneval gefeiert.

Musik für Demokratie

Das Bild der nächtlichen Technoparty hat Symbolgehalt: Serbiens Jugend war eine der Hauptkräfte im unglaublichen Umsturz der politischen Verhältnisse. Und nicht zufällig feierten die jungen Sieger beim Gewummer von Bässen: Die jungen Generationen in Serbien brennen darauf, die Grenzen aufzubrechen, endlich Zugang zu Europa und zum Rest der Welt zu bekommen. Slobodan Milosevics Regime und die Sanktionen der Europäischen Union haben es ihnen zehn Jahre lang verunmöglicht …
Noch vor einem Monat allerdings hätte in Serbien kaum jemand geglaubt, dass alles so herauskommen würde. Meinungsumfragen vor den Wahlen prognostizierten, dass sehr viele SerbInnen nicht an die Urnen gehen würden, vor allem junge nicht. Gross geworden in einer düsteren Zeit, waren viele von ihnen voller Skepsis und Misstrauen, hatten selber erlebt, dass «Gerechtigkeit» und «Wahrheit» oft nur leere Worthülsen waren. Den Wahlen standen sie mit Apathie und Desinteresse gegenüber. Um jeden Preis musste also die demokratische Opposition Serbiens (DOS) die Hoffnung auf einen möglichen politischen Umschwung wieder zum Leben erwecken. In dieser Situation kamen ihr die Kulturschaffenden zu Hilfe, in erster Linie die Musiker.
Anfang August starteten serbische Musiker die Kampagne «Musik für die Demokratie». Diese richtete sich vor allem an diejenige Generation, die soeben ihr Wahlrecht erworben hatte: rund 600 000 junge WählerInnen in ganz Serbien. Die Idee der Kampagne war, ausschliesslich in kleinen, abgelegenen Orten aufzutreten, wo keine alternative Information, kein anderes Medium als das staatliche hinkam und die Leute keine Ahnung hatten von den Anliegen und den Programmen der Opposition. Der Musikfeldzug funktionierte nach dem Muster seines politischen Gegenstücks: So, wie die Opposition verschiedene Gruppierungen vereinte mit dem gemeinsamen Ziel, das Regime zu stürzen, kamen die verschiedensten jungen Musiker aller Stilrichtungen – Rock, Pop, Hardcore, HipHop, elektronische Musik – zusammen, um im Namen des Widerstands durch ihr Land zu ziehen. Paradoxerweise war das die erste Grosstour solcher Bands durch Jugoslawien seit zehn Jahren …
Organisiert wurde die Tour von der studentischen Bewegung «Otpor» (Widerstand), deren Wahrzeichen – eine geballte schwarze Faust – zum Symbol der ganzen Opposition in Serbien wurde, und der Gruppe «G17+», einer Vereinigung von Wissenschaftsexperten, die ein Programm zur wirtschaftlichen Rehabilitation Serbiens verfolgten. Dass über den Konzertbühnen «Otpor»-Flaggen wehten, war allerdings oft gefährlich. «Otpor»-Aktivisten zählten zu den beliebtesten Zielscheiben des Regimes. Dennoch gaben beliebte Belgrader Untergrund-Combos wie «Eyesburn» und «Darkwood Dub», «Kanda Kodza & Nebojsha», «Sunshine», «Orthodox Celts», «Atheist Rap» oder «Negative» quer durch Serbien 24 Konzerte – der 24. September war Wahltag –, und der Leitsong «Es ist Zeit …» eroberte das Land.

Katalysatoren der Wut

Noch nie hatte Serbien eine derartige Tournee erlebt – und mit einem Schlag wurde klar, dass die Jungen sich seit langem nach solchen Konzerten gesehnt hatten. «Sie hätten nicht bis vor den Wahlen zu warten brauchen, um so ein Unterfangen zu starten», meinte die 19-jährige Maja aus Sombor, einer kleinen Stadt in der Provinz Vojvodina im Norden Serbiens. Zwar wussten die meisten Musiker nicht, was sie erwarten würde in all den kleinen Orten, in denen sie nie zuvor gespielt hatten. Erstaunlicherweise aber war die Begeisterung des Publikums am grössten in «roten» Städten wie Leskovac oder Prokuplje, in denen Milosevic die meisten Anhänger hatte. Immer lauter hallten offiziell verbotene Songs wie «Come out and Fight» der Gruppe «Eyesburn» durch Serbien. Die Tour war der historische Anfang dessen, was am Nachmittag des fünften Oktober in der Innenstadt Belgrads eskalieren sollte. Mehr als 150 000 Menschen besuchten die 24 Konzerte. Das waren mehr als doppelt so viele, als die politischen Veranstaltungen der Opposition anzuziehen vermochten.
«Vor den Wahlen dachte ich, wir müssten schon zufrieden sein, wenn bloss fünf Prozent all der Menschen, die an unsere Konzerte kamen, die Botschaft verstünden und den Wahltag nicht verschliefen», meint die Sängerin von «Darkwood Dub», Vlada Jeric. «Persönlich war ich schon glücklich darüber, dass wir in ein paar unglaublich verlorene Nester gekommen sind, in denen die Leute weder Theater noch Kino kennen und all ihre Energie aufs bare Überleben verwenden müssen. Was wir ihnen einen Abend lang mitteilen konnten, lohnte allein schon unsere Bemühungen, dachte ich. Aber jetzt ist klar, dass unsere Tour weitaus wirksamer gewesen ist, als wir je erwartet hätten!» Wie viele andere serbische Rockbands waren «Darkwood Dub» von den regimetreuen offiziellen Medien konsequent ignoriert worden. Schliesslich hatten sie nie ein Blatt vor den Mund genommen: Ihre Songzeilen verurteilten Milosevic in aller Schärfe. Gross war dafür die Genugtuung, als «Darkwood Dub» am Tag nach der friedlichen Revolution zum ersten Mal in Pozarevac, Milosevics Heimatstadt, spielten. Zehn Jahre lang war das Städtchen für jeden Andersdenkenden verbotenes Terrain gewesen …
Milena Dragicevic Sesic, Doktorin der Soziologie und Professorin an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Belgrad, ist überzeugt davon, dass die Konzerte enorm wichtig gewesen seien für eine unblutige Revolution: «Sie wirkten als Katalysatoren, indem sie die Wut und die Frustrationen der Menschen in konstruktive, positive Energie verwandelten.»
Neben den Rockbands machten sich auch andere Kulturschaffende auf durch Serbien: Bekannte jugoslawische Schaupieler reisten im «Umzug der Berühmtheiten» von einem Dorf zum nächsten und ermutigten die Leute, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. «Wir wollten die Leute höchstpersönlich dazu bringen, an den Wahlen teilzunehmen», erzählt Nikola Djuricko, einer der beliebtesten jungen Schauspieler in Belgrads Theaterszene. «Wir wollten ihnen auf der Bühne die Wahrheit erzählen, damit sie sie weitergeben konnten.» Die meisten seien sehr interessiert daran gewesen. «Wir informierten sie über die Ideen der Opposition, von denen sie am staatlichen Fernsehen noch nie etwas gehört hatten», erklärt Djuricko. Mit Erfolg: In einem kleinen Dorf seien sie verhaftet worden, weil sie «Otpor»-Flugblätter verteilt und T-Shirts mit dem Schriftzug der Opposition getragen hätten. Rasch aber hätte sich ein grosser Teil der Dorfbevölkerung vor der Polizeiwache versammelt und die Freilassung der Truppe gefordert. «Am Ende liess die Polizei uns laufen. All unser Material aber behielt sie zurück …»
Nikola Djuricko hatte sich wie viele andere junge serbische Theatermacher schon fast von Standes wegen verpflichtet gefühlt, bei der Kampagne mitzumachen: «Politik macht seit langem unser Leben und unsere Arbeit aus.» Immer wieder sind in Belgrad Theaterleute aktiv geworden gegen die Repression in der Gesellschaft: Als im März 1991 nach Demonstrationen gegen die Sozialistische Partei die Armee die Kontrolle über die Stadt übernahm und in Belgrads Strassen Panzer rollten, brachen die Schauspieler des Staatstheaters aus Protest ihre Aufführungen ab. Als ein Jahr später der Krieg in Bosnien begann, riefen die Schauspieler zum Sitzstreik. Und als im Winter 1996/97 hunderttausende auf die Strasse gingen, um das Regime zur Anerkennung oppositioneller Siege bei den Kommunalwahlen zu zwingen, waren Theatermacher und Schauspielerinnen in den vordersten Reihen mit dabei, genossen Antikriegsstücke wie «Troilus und Cressida», «U potpaljublju» («Unter Deck») oder die «Belgrader Trilogie» höchste Popularität. Zugleich setzten diese Erfolge Belgrads Theatermacher aber auch unter Druck: Theater war zum denkerischen Freiraum geworden. Die Leute gingen ins Theater, weil sie Kritik an den herrschenden Zuständen und mutige politische Aussagen erwarteten. Anderes Theater, war nicht mehr gewünscht.
Die Erfolge all dieser kulturellen Aktionen hätten am Stichtag nicht deutlicher sein können: Mehr als 70 Prozent der serbischen Bevölkerung ging an die Urne. Als die Wahlresultate vom Regime nicht anerkannt wurden, riefen wiederum die Kulturschaffenden jeder Couleur als Erste zum zivilen Ungehorsam auf: Überall in Serbien schlossen Theater, Kinos, Museen, Galerien und Bibliotheken ihre Türen. Obschon die Situation auf der Strasse mit jedem Tag heisser wurde, siegte zu guter Letzt die Vernunft und nicht die Gewalt. Einen nicht unerheblichen Verdienst daran tragen die jungen serbischen StudentInnen, MusikerInnen und SchauspielerInnen.