Die Welt zu Gast im Abseits

Le Monde diplomatique –

Iconic Stadium in der Planstadt Lusail, Katar
Katar im April 2022: das Iconic Stadium in der Planstadt Lusail Foto: CHRISTIAN CHARISIUS/picture alliance/dpa

Als das Exekutivkomitee des Weltfußballverbands Fifa am 2. Dezember 2010 Katar zum Ausrichter der WM 2022 kürte, brach in Doha ein Jubelsturm los. Im Hafen heulten die Schiffssirenen und auf den Prachtstraßen der katarischen Hauptstadt veranstalteten die Luxuskarossen ein Hupkonzert. Die lokalen Medien bejubelten rund um die Uhr ein Ereignis, das sie voller Stolz als internationale Anerkennung und als Aufnahme des Emirats in den Kreis der Großen dieser Welt darstellten. Emir Hamad bin Khalifa Al-Thani, der Vater des jetzigen Staatsoberhaupts, platzte vor Stolz: Endlich kannte die ganze Welt sein Königreich.

Doch sofort hagelte es auch Kritik von allen Seiten. Viele Kommentare in den Sportmedien bezeichneten es als Irrsinn, die WM an einen Wüstenstaat zu vergeben, in dem sengende Hitze herrscht, aber null Begeisterung für den Fußball. Und der US-amerikanische Verband, der von der Überlegenheit seiner Kandidatur überzeugt war, im Fifa-Exekutivkomitee dann aber mit 14 zu 8 Stimmen unterlag, sprach empört von Korruption und Stimmenkauf.

Auf politischer Ebene prangerten Nichtregierungsorganisatoren den autoritären Charakter der reichen Erdgas-Monarchie an, in der zum Beispiel politische Parteien und Gewerkschaften verboten sind. Amnesty International schrieb in seinem Jahresbericht 2011 über die Situation der Menschenrechte in Katar: „Frauen waren 2010 weiterhin Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Ausländische Arbeitsmigranten wurden ausgebeutet und misshandelt und genossen keinen ausreichenden rechtlichen Schutz. Gerichte ordneten auch weiterhin Auspeitschungen an. Nach wie vor ergingen Todesurteile, Hinrichtungen fanden jedoch nicht statt.“1 Damit war schon fast alles gesagt.

Doch auch in den zwölf Jahren seit der WM-Vergabe gab es zum Thema Katar 2022 ständig neue Meldungen: In den USA und in Frankreich wurden Gerichtsverfahren gegen die höchst umstrittene Abstimmung von 2010 und die mutmaßlichen Verfehlungen mehrerer Fifa-Funktionäre angestrengt. In zahlreichen Medienberichten wurden die unmenschlichen Lebensverhältnisse der beim Stadionbau eingesetzten Arbeitskräfte thematisiert. Die meisten von ihnen stammen aus Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und den Philippinen, aber auch aus afrikanischen Ländern wie Kenia, Somalia und Sudan.

Und schließlich machten viele NGOs auf die Umweltschäden aufmerksam, die durch den Bau der sieben klimatisierten Stadien verursacht werden. Aber obwohl fast Monat für Monat neue Vorwürfe auftauchten, wurde ein Aus für Katar 2022 nie wirklich in Betracht gezogen. Die wenigen Boykottaufrufe endeten als Flop, was an die Situation von 1978 erinnert, als die WM im von der Militärjunta regierten Argentinien stattfand.

Das Emirat lässt jede Kritik von sich abperlen und hat zig Millionen für eine Kommunikationskampagne ausgegeben, mit der sein Image aufpoliert werden soll. Im Übrigen haben mehrere hundert westliche, chinesische und japanische Firmen kräftig mitverdient an den 200 Milliarden US-Dollar, die Katar für den Bau von Stadien und Infrastrukturprojekten wie der Doha-Metro ausgegeben hat.

Kurz vor dem WM-Start am 21. November hat die Kritik einen Höhepunkt erreicht. Nach dem Motto „Besser spät als nie“ beeilen sich alle möglichen Leute, ihre Entrüstung zu äußern. So gab etwa der ehemalige französische Staatspräsident François Hollande am 22. September zu Protokoll: „Nach allem, was über den Ablauf des Wettbewerbs, die Klimaschädlichkeit und die Bedingungen auf den Baustellen bekannt ist, würde ich nicht nach Katar reisen, wenn ich Staatschef wäre. Aber ich bin es nicht mehr, und so kann ich das leicht sagen.“

Als Hollande noch im Élysée-Palast residierte, hatte er keine derartigen Bedenken. Bei seinem offiziellen Besuch in Doha am 23. Juni 2013 hatte er sogar versprochen, Frankreich werde dem Emirat bei der „Organisation einer sehr schönen Weltmeisterschaft“ helfen.

Damals war das Schicksal der asiatischen Arbeiter, die seit Jahrzehnten das moderne Katar und die anderen Ölmonarchien am Persischen Golf aufbauen, bereits weltweit im Gespräch. Hollande aber juckte das wenig, denn er wollte ja den geplanten Verkauf von Rafale-Kampfjets an das Emirat nicht gefährden.

Auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo zeigt sich plötzlich solidarisch mit den entrechteten Arbeitern in Katar. Deshalb wird es in der französischen Hauptstadt während der WM keine „Fanzonen“ geben. „Ich kritisiere jegliche Nachsicht mit Staaten, die sich heute über Klimafragen, soziale Regeln und fundamentale Rechte hinwegsetzen“, erklärte Hidalgos Stellvertreter David Belliard zur Begründung des Fanzonen-Boykotts. Was den Hauptstadtclub Paris Saint-Germain (PSG) angeht, ist der ehemalige Vorsitzende der Pariser Grünen allerdings weniger unnachgiebig.

Der traditionsreiche Fußballklub ist seit 2011 im Besitz des Emirats, und der PSG-Präsident Nasser Al-Khelaifi, ein Vertrauter des Emirs Tamim bin Hamad Al Thani, zeigt sich auf der VIP-Tribüne des Pariser Stadion Parc des Princes regelmäßig mit Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Inzwischen hat der größte französische Fernsehsender TF 1 entschieden, den Namen „Katar“ aus seinen Werbetrailern zur WM zu streichen. Doch an einen Verzicht auf die Übertragung der WM-Begegnungen denkt natürlich niemand.

Wenn man Katar boykottieren wollte, müsste man alle anderen Golfmonarchien gleich mit unter Quarantäne stellen. Denn ein Großteil der Kritik, die man an dem Emirat üben muss, trifft seit Langem auch auf Saudi-Arabien und das Sultanat Oman zu. Bevor auf den Baustellen der katarischen WM-Stadien hunderte Arbeiter zu Tode kamen, hatten in Dubai während der 2000er Jahre viele ihrer Kollegen beim Bau des Burj Khalifa ihr Leben gelassen. Zur Aussichtsplattform dieses höchsten Gebäudes der Welt lassen sich jährlich zehntausende Touristen aus aller Welt hochfahren. Und kein Mensch denkt daran, diesen Ort zu boykottieren.

In Oman wurden für die am Reißbrett geplante Neustadt von Duqm Legionen ausländischer Arbeiter rekrutiert, die kaum besser behandelt werden als die in Katar. Dennoch kommt niemand auf die Idee, die im Radrennsport fest verankerte Oman-Rundfahrt auf den Index zu setzen.

Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und das Königreich Bahrain stehen wegen der Missachtung von Menschenrechten, ihrer Rolle im Krieg in Jemen und ihrer autokratischen Staatsführungen permanent am Pranger. Aber niemand hat bislang zum Boykott der Formel-1-Rennen in diesen Monarchien aufgerufen. Und dass an der Tour de France zwei Rennteams teilnahmen, die von den VAE und von Bahrain finanziert werden, regt kaum jemanden auf.

Und wer thematisiert die Umweltsünden der anderen Mitgliedstaaten des Golf-Kooperationsrats? Die sieben voll klimatisierten WM-Stadien sind zweifellos ökologischer Wahnsinn, aber viel katastrophaler sind die tausenden Tonnen an Fluorkohlenwasserstoff (FKW), die von katarischen Klimaanlagen in die Luft geblasen werden. Ohne sie wäre das Leben im Emirat zwischen März und Oktober unerträglich.

Dank intensiver Lobbyarbeit wurde den Golfmonarchien 2016 auf einem internationalen Gipfeltreffen in Kigali zugestanden, dass sie das Verbot dieser extrem schädlichen Treibhausgase erst 2047 umsetzen müssen. Für den Rest der Welt gilt das Verbot bereits ab 2036. Doch selbst diese großzügigere Frist wird wahrscheinlich nicht eingehalten werden.

In Abu Dhabi kühlt man die Pools der großen Hotels im Sommer herunter. Und in Dubai kann man das gesamte Jahr über in einer Skihalle, die von einer französischen Firma entworfen wurde, dem Wintersport frönen. Um von dieser skandalösen Energieverschwendung abzulenken, wird eine geschickte Kommunikationskampagne über die Verheißungen der grünen Technologie gefahren. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Internationale Organisation für erneuerbare Energien (Irena) ihren Sitz ausgerechnet im Ölstaat VAE hat.

Als Ausrichter der Fußballweltmeisterschaft muss Katar nun erfahren, wie hoch der Preis für seine Ambitionen auf der Weltbühne ist. Bei der Organisation von regionalen Sportwettkämpfen oder der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 war es dem Emirat noch gelungen, Proteste wie die gegen die WTO-Ministerkonferenz von 1999 in Seattle zu vermeiden.

Doch die Fußball-WM ist eine andere Dimension. Bei einer Veranstaltung, die unter den Augen der ganzen Welt stattfindet, ist es unmöglich, unter dem Radar zu bleiben und sich bei Kritik, Argwohn oder Neid einfach wegzuducken. Da hätte Katar aus der Erfahrung des benachbarten Emirats Kuwait lernen können, das Ende der 1980er Jahre ebenfalls mit einer Welle gnadenloser Kritik überzogen wurde.

Das Land hatte damals begonnen, an der Wall Street und der Londoner Börse zu investieren – ausgestattet mit einer 200 Milliarden US-Dollar schweren Kriegskasse. Denn kurz nach dem Börsenkrach vom 19. Oktober 1987, dem „schwarzen Montag“, waren die Aktien der großen Ölmultis günstig zu haben – allen voran die der British Petroleum (BP), die kurz zuvor unter der Regierung von Margaret Thatcher privatisiert worden war.

Im ersten Halbjahr 1988 legte der Staatsfonds Kuwait Investment Office (KIO) 2 Milliarden US-Dollar auf den Tisch und sicherte sich so 22 Prozent des Grundkapitals des Ölkonzerns. Des Weiteren kündigte der kuwaitische Staatsfonds an, auf die strategische Führung des Konzerns Einfluss nehmen zu wollen.

London reagierte empört. Einem Schwergewicht der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) ein Mitspracherecht über die Zukunft dieses Flaggschiffs der britischen Wirtschaft einzuräumen, das kam nicht infrage. Thatcher drohte Kuwait für den Fall der Übernahme zusätzlicher BP-Anteile mit Repressalien, während Labour-Chef Neil Kinnock vor einer „Gefährdung nationaler Interessen“ warnte. Der KIO lenkte schließlich ein und verringerte seinen Kapitalanteil an dem Konzern.

Auch in den USA, wo bereits eine feindliche Stimmung gegenüber japanischen Investoren herrschte, geriet der KIO damals bei vielen Kongressabgeordneten in Verruf. Der Staatsfonds war ihnen vor allem wegen des Erwerbs von Luxusimmobilien in New York suspekt geworden.

Ein ähnliches „Kuwait-Bashing“ gab es auch in Frankreich. Dort hatte man nicht vergessen, wie Scheich Fahad al-Ahmed al-Jaber as-Sabah, der Bruder des Emirs und Präsident des kuwaitischen Fußballverbands, während der Fußball-WM 1982 in Spanien im Stadion von Valladolid auf das Feld gelaufen kam und den Schiedsrichter zur Aberkennung eines Tors des französischen Nationalteams überredete. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Fußballs.

Angesichts der selbst geschaffenen Atmosphäre des Misstrauens musste der KIO im Sommer 1990 viel Geld in Kommunikationskampagnen und Lobbyarbeit stecken, um die Öffentlichkeit im Westen davon zu überzeugen, dass es Kuwait trotz seines Reichtums und seiner Arroganz nicht verdient hatte, vom Irak des Saddam Hussein annektiert zu werden.

Nach diesen Erfahrungen ist Kuwait auf der internationalen Bühne seit drei Jahrzehnten auf absolute Diskretion bedacht. Ob Katar denselben Weg einschlagen wird, hängt vom Verlauf der Fußball-WM und den Ergebnissen der laufenden Untersuchungen ab.

Im Übrigen könnte das ebenfalls sehr ehrgeizige Saudi-Arabien demnächst die Rolle des Bösewichts am Persischen Golf übernehmen. Die Saudis positionieren sich – möglicherweise gemeinsam mit Ägypten und Griechenland oder mit Marokko – als Bewerber für die Weltmeisterschaft 2030. Im Jahr 2029 darf Saudi-Arabien bereits ein anderes Sportevent ausrichten: die asiatischen Winterspiele. Kein Witz.

1„Amnesty-Jahresbericht von 2011: Zahlen und Fakten“, 10. Mai 2011.

Aus dem Französischen von Markus Greiß