Pop: Pervers und abscheulich

Nr. 48 –

Mykki Blanco und Oliver Sim erzählen auf ihren neuen Alben vielstimmig und verführerisch von komplizierten Leben. Kompliziert macht sie auch HIV.

Oliver Sim
Oliver Sim. Foto: Casper Sejersen
Mykki Blanco
Mykki Blanco. Foto: Irakli Gabelaia

Zwei der tollsten, schillerndsten, auch widersprüchlichsten Popalben der Saison kommen von Leuten, die HIV-positiv sind und darüber singen: Mykki Blanco und Oliver Sim (The xx). Die These suggeriert einen Zusammenhang. Sind die Alben toll, weil sie Aids verhandeln? Oder sind sie toll, obwohl sie Aids verhandeln?

Beide Musiker:innen, die Schwarze US-amerikanische trans Frau Blanco und der weisse, cismännliche Brite Sim, thematisieren «sexual politics». Sie bedienen sich künstlerischer Idiome und Attitudes, die seit Jahrzehnten zum Einsatz kommen, wenn Queer Folks expressiv über sich Auskunft geben, in dem Wissen, dass die «straighte» Mehrheitsgesellschaft zuschaut und -hört. Blanco und Sim präsentieren und performen geschminkte Körper wie geschminkte Stimmen (Autotune, Vocoder), Hi Energy, Exzess, Maskerade, Camp. Transgressionen, die wir kennen aus Warhols Factory, dem Queer Cinema des Jack Smith, den hyperexaltierten Hits von Sylvester, der «Gay Black Diva» (so heisst seine Biografie), und, aus zweiter Hand, von Popdiven: Grace Jones, Róisín Murphy, Beyoncé.

Zulassen, geliebt zu werden

«I’m ugly», croont Oliver Sim mit tiefergelegtem Bariton. Es sind die ersten Worte seines ersten Soloalbums «Hideous Bastard», mit 32, nach einem halben Leben als Bassist der britischen Somnambul-Rave-Band The xx. Oliver ist alles andere als hässlich, und er weiss es. Ein zartes, feingliedriges Wesen, das sich dem begehrenden Blick preisgibt – von wem auch immer. «I’ve been sick and I’m perverse, oh, I’m hideous», singt Sim. «Hideous» heisst abscheulich, grässlich, scheusslich, fratzenhaft. Der Titelsong eskaliert ins Himmel-voller-Geigen-Hymnische, dann Stille, eine hohe («Frauen»-)Stimme setzt ein: «Folge meiner Stimme, süsser Naturbursche», schluchzt sie.

Aber nein, da singt keine Frau, es ist das engelsgleiche Organ von Jimmy Somerville, dem Smalltown Boy, der 1984 aus der Kleinstadt flüchtet, weil er dort keinen schwulen Sex leben kann. Daraus machten Bronski Beat eine gloriose Coming-out-Hymne. Somerville, inzwischen 61, trifft den «Hideous Bastard» zum schwulen Schulterschluss über die Generationen. «Sei aufgeweckt, habe Vertrauen», rät Somerville, «lass es zu, geliebt zu werden.» Radikale Offenheit könnte ihn befreien, erwidert Sim und legt los: «Been living with HIV, since seventeen, am I hideous?»

Mit diesem Bekenntnis endet der Auftaktsong eines Popalbums, das um Selbstzweifel und Scham kreist, ohne Angst vor grosser Geste, zu euphorischen, euphorisierenden Melodien. Oliver steht damit auf den Schultern der queeren britischen Popstars der frühen Achtziger: Culture Club, Wham!, Frankie Goes to Hollywood, Soft Cell, The Associates, Dead or Alive, Marilyn und viele andere. Diese schwule Blüte endet 1982/83 mit der Ankunft von Aids. Die «Schwulenseuche» als «Strafe Gottes» bringt den Backlash, die Re-Hetero-Normalisierung. Aids bleibt Kassengift. Zwar sind heute mehr Queer Folks sichtbar, es gibt mehr Safe Spaces für Heteronormabweichler:innen. Aber gleichzeitig boomen homophobe Propaganda, Hate Speech und Gewalt gegen alles Queere, vom Iran bis Ungarn, von Berlusconi bis Putin.

Trotzdem berühmt werden

«Stay Close to Music», Mykki Blancos neues Album, ist ein Mixtape der vielen Stimmen: von Devendra Banhart, Kelsey Lu, der Rapper Saul Williams und MNEK, Michael Stipe von R.E.M. und der Frau, die Lou Reed einst gefördert hat, als sie noch unter ihrem Männernamen performte. «Antony ist ein unglaublicher Sänger», schwärmte Reed. Inzwischen ist Antony zu Anohni geworden, einer erstaunlichen Sängerin mit Boy-George-Schmelz bei «French Lessons», dem Hit des Albums. Da spielt Blanco mit dem «Doo do doo do doo do»-Chor aus «Walk on the Wild Side», Reeds Hommage auf die queere Belegschaft der New Yorker Factory.

Anders als Oliver Sim hatte Mykki Blanco schon 2015 bekannt gegeben, dass sie HIV-positiv ist. Dafür wurde sie als «erster infizierter Rapper seit 1995» gefeiert, ein Skandal im maskulinistischen Hip-Hop. Damals war der Rapper Eazy-E an Aids gestorben, als Nachweis seiner weissen Heteroweste dient der Hinweis, dass er Vater von sieben Kindern war – von sechs verschiedenen Frauen. Im letzten Song des Albums kommt Blanco auf das Virus zu sprechen. «Black and gay», verkündet sie mit tiefer («Männer»-)Stimme. «Ich habe HIV. Kann ich trotzdem berühmt werden?» Die Antwort kommt von einer hohen, als «weiblich» lesbaren Stimme: «Carry on» – weitermachen! Das verkündet Jónsi, cis Mann, Sänger der isländischen Band Sigur Rós. «Don’t give up», ruft er und damit beendet Blanco ein Album, das sich und seinen Hörer:innen keine Zumutung erspart: Gendertrouble, Pronomen, Anführungszeichen. Und dann noch Aids!

Zurück zum Anfang: Sind das tolle Alben, weil sie von HIV handeln oder obwohl sie das tun? Weder noch. Es sind tolle Alben, weil sie ohne Angst vor Widersprüchen und Überforderungen geschichtsbewusst, multiperspektivisch, vielstimmig, verführerisch aus komplizierten Leben erzählen. Leben, die auch kompliziert sind wegen HIV, selbst wenn das Virus heute kein Todesurteil mehr darstellt.

Cover der CD «Stay Close to Music» von Mykki Blanco

Mykki Blanco: «Stay Close to Music». Pias / Transgressive / Rough Trade. 2022.

Cover der CD «Hideous Bastard» von Oliver Sim

Oliver Sim: «Hideous Bastard». Young / XL / Beggars / Indigo. 2022.