Was war der beglückendste Moment? Sechzehn Fragen an Carmen Jaquier, Regisseurin von «Foudre».

wobei 1/

Portraitfoto von Carmen Jaquier
«Ich versuche, Vorurteile zu überlisten»:  Carmen  Jaquier.

WOZ: Carmen Jaquier, was ist Ihre frühste Erinnerung, die mit Kino zu tun hat?

Carmen Jaquier: Der allererste Film war, glaube ich, «Der Bär» von Jean-Jacques Annaud. Das hat sich mir auch deshalb eingeprägt, weil ich beim Tod der Bärin so geschrien habe, dass man mich aus dem Kinosaal bringen musste. In meiner Erinnerung befand sich mein Gesicht gerade mal einen Meter von einer riesigen Leinwand entfernt … Eine andere frühe Erinnerung ist Ingmar Bergmans «Die Zauberflöte», den ich mit meinem Vater sah. Noch heute erinnere ich mich an die Gesichter der Schauspieler:innen und an die Kulissen.

Der erste Schweizer Film, an den Sie sich erinnern können?

Ganz sicher ein Film von Jean-Luc Godard, aber ich erinnere mich nicht mehr, welcher das war … Und wenn nicht Godard, war es wohl «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy, über den meine Mutter damals sehr lachen musste.

Was halten Sie für das ärgerlichste Vorurteil über Schweizer Filme?

Ich möchte mit einer Frage antworten: Was haben die Filme von Elene Naveriani, Cyril Schäublin, Klaudia Reynicke, Elie Grappe oder auch Petra Volpe gemeinsam? Vorurteile entstehen oft aus unserer Unkenntnis. In meiner Arbeit wie auch in meinem Leben versuche ich, Vorurteile zu überlisten, vor allem meine eigenen. Der Schweizer Film ist lebendig und vielfältig.

Was war der beglückendste Moment bei der Arbeit an «Foudre», Ihrem ersten langen Spielfilm?

Das war während der Dreharbeiten, als wir mit dem gesamten Team das gedrehte Material anschauten. Nach einem langen Arbeitstag warteten wir noch, bis es Nacht wurde. In dem Garten, wo wir drehten, hatten wir ein Laken zwischen zwei Bäume gespannt und projizierten darauf die Bilder, die wir die Tage davor gedreht hatten. Es war ein grosser Moment voller Emotionen und Dankbarkeit: Mit den Sternen über unseren Köpfen entdeckten wir gemeinsam, was wir da gerade zusammen herstellten.

Wann haben Sie Ihren Beruf zuletzt verflucht, und aus welchem Anlass?

Es ist eine Arbeit, die Ausdauer und Durchhaltevermögen erfordert. Kürzlich habe ich für eines meiner Projekte eine Absage bekommen. Und wie jedes Mal muss ich jetzt einen Weg finden, die Enttäuschung umzuwandeln.

Wovon träumen Sie?

Von einem Zimmer für mich allein.

Was macht Ihnen Angst?

Auf der Mikroebene meines eigenen Lebens habe ich Angst davor, dass mir der Mut fehlen könnte, dass ich aufhören könnte, mich weiterzuentwickeln, dass ich den Weg der Liebe nicht mehr finde. Und auf der Makroebene … dass die Ungleichheiten sich weiter verstärken und wir den Zusammenhalt zwischen den Menschen verlieren.

Von welcher Filmemacherin, von welchem Filmemacher haben Sie am meisten gelernt, sei das persönlich oder aus seinen oder ihren Filmen?

Ich mag den Ansatz und das Kino von Chantal Akerman. Sie war immer eine Forschende, eine Suchende, und eine gewaltige Filmemacherin. Das einzige Mal, als ich sie in einem Kino getroffen habe, sagte sie zu mir: «Sie brauchen keinen Meister.» Und dann auch Jan Gassmann, mit dem ich mich jeden Tag austausche, über das Leben und das Kino …

Bei welchem Film wären Sie wahnsinnig gerne Assistentin auf dem Set gewesen? Warum?

Bei «One Week» von Buster Keaton, auf Deutsch: «Flitterwochen im Fertighaus». Ganz einfach, um Keaton am Werk zu sehen.

Truffaut oder Godard?

Godard ist für immer, ein ewig brennender Stern, ein revolutionäres Kind.

Drehen Sie lieber digital oder auf Film? Weshalb?

Ich habe nie auf Film gedreht, vielleicht bin ich deshalb in die Pixel verliebt?

Kinos sind immer auch Pilgerstätten. Wo steht das schönste Kino, das Sie je besucht haben?

Ich bin dem «Spoutnik» verbunden, dem Kino in der «Usine» in Genf, und auch dem «Xenix» in Zürich. Das sind Orte des Engagements und der Auseinandersetzung mit dem Kino, anspruchsvoll und doch entspannt.

Welche drei Filme würden Sie für die einsame Insel einpacken?

«Donna Haraway. Story Telling for Earthly Survival» (2016) von Fabrizio Terranova, weil die menschliche Spezies neue Erzählungen braucht, neue Formen des Erzählens. Donna Haraway ist Philosophin, Historikerin, Biologin, unter anderem. Sie erkundet und erweitert die Beziehungen von allem, mit dem wir verbunden sind, und die Fragen, die sie in ihren einfallsreichen Forschungen aufwirft, werden mich noch lange nicht loslassen.

Dann «Au hasard Balthazar» (1966) von Robert Bresson. Die Zärtlichkeit zwischen der kleinen Marie und dem Esel Balthazar gehört für mich zu den grössten Momenten des Kinos. Schweigend wird Balthazar vom einen Besitzer zum nächsten weitergereicht, und dabei offenbart er das Wesen derer, die ihn auf seinem kleinen Lebensweg begleiten. Die Sequenz in «Foudre», wo Elisabeth die Eselin streichelt und sie nach ihrer Schwester fragt, ist von Bressons Film inspiriert.

Und «Bright Star» (2009) von Jane Campion, wegen der satten Farben und der prächtigen Ausstattung – und weil es ein absolut romantischer Film ist, über die unmögliche Liebe zwischen Fanny Brawne und John Keats. Ich weine jedes Mal bei diesem Film und auch, wenn ich den Soundtrack höre.

Welches ist Ihr peinlichster Lieblingsfilm? Und warum peinlich?

Ich mag alle Teile von «Jurassic Park», sogar die sehr schlechten.

Ein sträflich unterschätzter und/oder vergessener Film, für den Sie hier gerne ein bisschen missionieren würden?

«Genpin» (2010) von Naomi Kawase, ein Dokumentarfilm über die Frauen im Geburtshaus von Doktor Yoshimura in einem Wald bei der japanischen Stadt Okazaki. Die Frauen hier leisten selbst hochschwanger noch anstrengende körperliche Arbeit, bis zur Geburt. Der Film wirft viele Fragen über Mutterschaft auf, über die Widerstandskraft von Frauen, ihre Resilienz und ihre körperliche Stärke. Ich war selber im achten Monat schwanger, als ich den Film entdeckte, was natürlich eine sehr intensive Erfahrung war.

Ich denke auch an «Simone Barbès ou la Vertu» (1980) von Marie-Claude Treilhou, ein Film wie ein Komet. Ein nonchalantes Driften von Aussenseiter:innen und Einzelgänger:innen, die in ihrem Zusammenspiel die Intelligenz des Herzens wecken.

Der wichtigste Rat, den Sie jungen Filmschaffenden mit auf den Weg geben würden?

Wählt euer Team gut aus. Und wenn ihr glaubt, ihr seid im Herzen des Films, seid ihr es nicht. Man muss immer noch einen Schritt weiter gehen.

Carmen Jaquier

Geboren 1985 in Genf, absolvierte Carmen Jaquier nach einem Grafikstudium die Filmschule an der École cantonale d’art de Lausanne (Ecal). Als Regisseurin war sie mit einem Beitrag am Film «Heimatland» (2015) beteiligt. In Solothurn zeigt sie ihren ersten langen Spielfilm, «Foudre» (2022), der vom sexuellen Erwachen einer jungen Frau in einem Walliser Bergdorf um 1900 erzählt. Mit ihrem Lebenspartner, dem Regisseur Jan Gassmann (derzeit im Kino mit «99 Moons»), arbeitet Jaquier bereits an der Fertigstellung eines weiteren Spielfilms, den sie 2019, noch vor «Foudre», zusammen gedreht haben.

«Foudre» in: Solothurn, Palace, Do, 19. Januar 2023, 15.30 Uhr, und Reithalle, So, 21. Januar 2023, 21 Uhr. Ab Frühjahr im Kino.