Ausstellung: Was die Fotos nicht zeigen

Nr. 8 –

Noch ein unterbeleuchtetes Kapitel Schweizer Geschichte: In «Und dann fing das Leben an» erzählen Ayse Yavaş und Gaby Fierz von der Migration von Türk:innen in die Schweiz – und zurück. Es ist auch Yavaş’ eigene Geschichte.

ein Bild aus der Ausstellung: Meryem und Hüseyin Yavaş sitzten an einem Gartentisch, Ende der sechziger Jahre
Von Doğancılı am Schwarzen Meer in eine Kleinstadt im tiefsten Aargau: Meryem und Hüseyin Yavaş (Mitte und rechts) Ende der sechziger Jahre. Foto: Archiv Yavaş

Er bat den Vorarbeiter der Giesserei um 300 Franken Vorschuss. Damit kaufte er sich Essen, eine Pfanne und Öl. «Und dann fing das Leben an.» Dies erzählt Hüseyin Yavaş an einer der Hörstationen in der gleichnamigen Ausstellung, die zurzeit in der Kaserne in Basel zu sehen ist. Gemeinsam mit zehn anderen jungen Männern kam Yavaş in den sechziger Jahren aus der Türkei in die Schweiz, um hier zu arbeiten. Eigentlich wollte er nach Kanada oder Deutschland, doch ein Freund, der als Übersetzer in einer Giesserei in Brugg arbeitete, vermittelte die Männer dorthin. So verliess Yavaş den Küstenort Doğancılı am Schwarzen Meer und landete in einer Kleinstadt im tiefsten Aargau.

1968 kam seine Frau Meryem in die Schweiz. An einer anderen Hörstation erzählt sie, wie sie als Untermieter:innen bei einem älteren Schweizer Paar in einem engen Häuschen lebten. Wie einsam sie zu Hause war und sich langweilte, während ihr Mann arbeitete, und wie sie nach sechs Monaten schliesslich auch arbeiten ging. Das Schweizer Paar war nett – sie habe die Frau «Mami» genannt, erzählt Meryem Yavaş. Allerdings habe das Paar klar gesagt, dass sie keine Kinder im Haus haben wollten.

Wie ein buntes Familienalbum

Als ein Jahr nach ihrer Ankunft ein Kind zur Welt kam, musste die junge Familie bald umziehen. Dieses 1969 geborene Kind ist die Fotografin Ayse Yavaş. Sie hat gemeinsam mit der Ethnologin Gaby Fierz eine eindrückliche «biografisch-fotografische Recherche in der Schweiz und der Türkei» erarbeitet, wie es im Untertitel heisst. Die Ausstellung ist wie ein buntes Familienalbum. Die vielen Fotos auf Stellwänden zeigen Kinder beim Musizieren, Hochzeiten, Familien, junge Menschen, die vor Blumenbeeten posieren, Szenen aus Schullagern oder von Reisen. Allerdings sind die Fotografien – die mit deutschen und türkischen Texten sowie mit Hörstationen ergänzt werden – nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet: entlang von Stichworten wie «Kindheit», «Reise/Ferien», «Lebensräume», «Schule» oder «Arbeit/Ankommen».

Zu sehen sind einerseits Fotos von Ayse Yavaş’ Familie, aber auch von Freund:innen, Bekannten und entfernten Verwandten, die wie Yavaş’ Eltern aus der Türkei in den Aargau kamen. Und während die Fotos (vermeintlich) glückliche Momente festhalten, erzählen die Geschichten dahinter auch von Einsamkeit, von unfreiwilligen Trennungen, von zerrissenen Familien, von Abschied und Schmerz, von Diskriminierung, vom Nichtankommen und schliesslich auch vom Konflikt zwischen den Generationen: «Ein besseres Leben für die Kinder ist der Wunsch der ersten Generation, doch unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Leben führen zu Konflikten und Brüchen», ist auf einer Stellwand zu lesen.

Ein solcher Konflikt mit ihren eigenen Eltern hat Ayse Yavaş’ Interesse an der Fotografie bereits geschärft, als sie eine junge Frau war, wie sie in der zweisprachigen Broschüre zur Ausstellung schreibt. Das Suchen von Fotos half ihr, Erlebtes zu begreifen und zu reflektieren. Doch sie merkte auch, dass die Alben nicht nur Orte des Erinnerns waren, sondern auch des Nichterinnerns: «Das Gezeigte verwies immer auch auf das Nichtgezeigte.» Gemeinsam mit der Ethnologin Gaby Fierz machte sie sich auf die Suche nach dem Nichtgezeigten: 2017 führten die beiden Frauen die ersten Interviews in Anadolu Hisarı und Doğancılı unter anderem mit Yavaş’ Eltern, die vor längerer Zeit wieder in die Türkei zurückgekehrt waren.

Aber auch in der Schweiz trafen sie viele Bekannte und Verwandte, hörten sich ihre Geschichten an, die nun in der Ausstellung wiedergegeben werden. Während der Recherche wuchs das Projekt über die eigene Familie hinaus. «Und dann fing das Leben an» erzählt von der ersten Generation der in die Schweiz Ausgewanderten sowie ihren Nachfolger:innen. Heute leben in der Schweiz rund 130 000 Menschen mit familiären Verbindungen in die Türkei. Ein Plakat beim Eingang zur Ausstellung, das zur Gedenkveranstaltung in Basel für die Opfer des Erdbebens in der Türkei und Syrien einlädt, macht aus schmerzhaftem Anlass bewusst, wie sehr die Leben in den beiden Ländern miteinander verwoben sind.

Die Welt sammeln

«Fotografien sammeln heisst die Welt sammeln», schreibt Susan Sontag in ihrem 1977 erschienenen Buch «Über Fotografie». Es ist eine beeindruckende Welt, die Ayse Yavaş und Gaby Fierz hier gesammelt haben und nun in einem einzigen Raum präsentieren. Eine Welt, für die sich in der Schweiz lange niemand interessiert hat – was in den Geschichten auch vereinzelt thematisiert wird. So sagt Ayse Yavaş’ Schwester Lale Türkan Yavaş: «Es hat etwas mit mir gemacht, dass ich nie vorgekommen bin.» Schade ist einzig, dass «Und dann fing das Leben an» nicht in einem grösseren Kontext und in einem grösseren Haus wie einem Historischen Museum oder dem Schweizerischen Nationalmuseum zu sehen ist. Denn die Welt, die uns in dieser Ausstellung vorgestellt wird, ist ein bedeutender Teil der Geschichte dieses Landes.

«Und dann fing das Leben an» ist noch bis am Sonntag, 12. März 2023, im kHaus-Forum in der Kaserne Basel zu sehen. www.unddannfingdaslebenan.ch