Durch den Monat mit Gracie Mae Bradley (Teil 3) : Was haben Sie von den Streiks gelernt?

Nr. 20 –

Die soziale Krise in Grossbritannien ist immens. Doch dank der riesigen Streikwelle schöpft die Menschenrechtsaktivistin Gracie Mae Bradley Hoffnung.

Portraitfoto von Gracie Mae Bradley
«Ich hatte keine Ahnung, dass manche Berufsgruppen – etwa Leh­rer:in­nen, Pfleger oder Ärztinnen – so drastische Lohnkürzungen in Kauf nehmen mussten»: Gracie Mae Bradley.

WOZ: Frau Bradley, wir haben bereits darüber gesprochen, dass die britische Regierung eine rassistische Flüchtlingspolitik verfolgt. Manche mögen davon überrascht sein, ist doch das Kabinett von Rishi Sunak – dem ersten Premierminister aus einer ethnischen Minderheit – sehr divers. Wie passt das zusammen?

Gracie Mae Bradley: Es kommt ganz darauf an, wie man Rassismus versteht. Wenn man damit nur persönliche Vorurteile meint – rassistische Beschimpfungen oder schlechtere Behandlung aufgrund der Hautfarbe –, dann kann man tatsächlich argumentieren, dass die Regierung nicht besonders rassistisch sei. Aber ich halte eine andere Definition von Rassismus für sinnvoller, nämlich jene der US-amerikanischen Akademikerin Ruth Wilson Gilmore: Es geht darum, dass für bestimmte Gruppen Verwundbarkeiten produziert werden, die einen frühzeitigen Tod wahrscheinlicher machen.

Was bedeutet das?

Die britische Regierung übt zum Beispiel dann tödliche Gewalt aus, wenn sie Menschen aufgrund ihres Einwanderungsstatus von der Gesundheitsversorgung oder der Sozialfürsorge ausschliesst oder wenn sie sie inhaftiert. Dies ist die Macht, Menschen dem frühzeitigen Tod auszuliefern – und es kommt überhaupt nicht darauf an, ob der Premierminister und die Innenministerin selbst aus einer ethnischen Minderheit stammen oder nicht.

Reden wir mal über etwas Erfreuliches. Das Land erlebt seit vergangenem Sommer eine riesige Streikwelle, die nicht abzubrechen scheint.

Es ist so aufregend! Natürlich ist der Auslöser eine grosse soziale Krise: Der Lebensstandard der britischen Bevölkerung ist im letzten Jahrzehnt dramatisch gefallen. Viele der Streikenden haben Jahr um Jahr Lohnkürzungen hinter sich. Manche müssen wählen, ob sie heizen, essen oder die Miete bezahlen, weil sie sich nicht alles leisten können. Der Hintergrund ist also eine tiefe Misere – ein Sturm, der sich über Jahre zusammengebraut hat. Aber die Reaktion der Lohnabhängigen ist inspirierend. Eine so militante Arbeiter:innenbewegung habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt. Und für viele junge Leute ist es ein Moment der politischen Bildung.

Wie meinen Sie das?

Ich zum Beispiel hatte keine Ahnung, dass manche Berufsgruppen – etwa Lehrer:innen, Pfleger oder Ärztinnen – so drastische Lohnkürzungen in Kauf nehmen mussten. Manche Medien versuchen, die Gewerkschaften abzukanzeln und sie als unvernünftig darzustellen. Sie sagen, dass etwa die Forderung der Assistenzärzt:innen nach einer Lohnerhöhung von 35 Prozent lächerlich sei. Aber wenn man sich anschaut, wie die Gehälter in den vergangenen fünfzehn Jahren inflationsbereinigt sukzessive kleiner geworden sind, dann kommt man unweigerlich zum Schluss, dass die Forderung überaus vernünftig ist. Was ich auch sehr positiv finde, ist die Zusammenarbeit mit anderen Kampagnen. Die Streikenden zeigen zum Beispiel Solidarität mit Migrant:innen oder mit trans Menschen, die von rechter Seite unter Beschuss sind. So widersetzen sie sich den Versuchen der Regierung, die Arbeiterbewegung zu spalten.

Die Unterstützung der Bevölkerung ist im Vergleich zu früheren Streiks sehr hoch. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt niemanden, der vom sinkenden Lebensstandard nicht betroffen ist – na ja, es gibt schon einige, aber sie sind extrem reich. Und alle sehen jetzt, wie prekär die Situation ist, insbesondere im Gesundheitssystem National Health Service. Man bekommt kaum Arzttermine, und wenn man sie bekommt, dann stellt man fest, dass das medizinische Personal völlig überarbeitet ist. Zudem ist der NHS ein sehr grosser Arbeitgeber – 1,3 Millionen Leute arbeiten für den Gesundheitsdienst. Das heisst, dass viele Leute persönlich jemanden kennen, der mit tiefen Löhnen kämpft. Das Leben aller Brit:innen ist von dieser Krise betroffen. Zudem haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder gesehen, wie dreist die Regierung ihre Macht missbraucht.

Worauf beziehen Sie sich?

Während der Pandemie haben wir alle Opfer gebracht, wir haben Verwandte nicht besucht und unsere Sozialkontakte beschränkt. Aber in Westminster gab es Politiker, die wortwörtlich Koffer voll mit Alkohol zu Partys geschleppt haben. Der Gegensatz zwischen der Regierung und der breiteren Masse der Leute war so dramatisch, dass kaum jemand denkt: Diese Regierung handelt im Interesse der Öffentlichkeit. Auch das stärkt die Unterstützung für die streikenden Arbeiter:innen.

Sie leben seit letztem Jahr in Glasgow. Wie gefällt es Ihnen dort?

Die Stadt hat im Gegensatz zu London viel menschlichere Dimensionen. Besonders das Zentrum von London ist riesig und sehr unpersönlich, und man sieht, wie reich dort manche Leute sind. In Glasgow hingegen spüre ich eine Freundlichkeit und eine persönliche Vertrautheit, die mich überall begleiten – im Buchladen, im Schwimmbad oder an der Bushaltestelle. Und viele ältere Frauen fangen hier ungezwungen ein Schwätzchen mit mir an – das finde ich reizend.

Gracie Mae Bradley (32) ist Direktorin von Friends of the Earth Scotland. Seit ihrem Umzug in den Norden hat sie festgestellt, dass die Klimadebatte in Glasgow weit progressiver ist als in Westminster.