Theaterwandern: Helm aufsetzen und abheben

Nr. 21 –

Wir stellen uns über die Natur, und sie liest uns die Leviten: Hoch über dem Genfersee laden Rimini Protokoll in sieben Inszenierungen zum Eintauchen zwischen Wald und Wiese.

Besucher:innen des Waldtheaters liegen auf dem Waldboden und hören mit Kopfhörern einer Soundcollage von Rimini Protokoll zu
Über allen Wipfeln ist noch Ruh – doch schon bald tobt als Teil der Soundcollage von Rimini Protokoll ein Sturm durch die Kopfhörer des Publikums von «Paysages partagés». Foto: Sarah Imsand

Ein Knistern liegt in der Luft. Kommt es aus dem schwarzen Block, der da am Waldrand steht? Tatsächlich, es ist eine Lautsprecherbox mit Plattenspieler obendrauf. Ins Knistern mischt sich jetzt die Stimme eines Mannes, der auf Englisch über den Huia spricht, einen Vogel aus Neuseeland, der vor über hundert Jahren ausgestorben ist. Die knapp vierminütige Tonaufnahme stammt aus dem Jahr 1949 und stellt den Maori Hēnare Hāmana vor, der 1909 eine Expedition auf der Suche nach den letzten Huia leitete und vierzig Jahre später im Studio das Balzduett der Huia aus der Erinnerung nachahmte.

Zu diesem Zeitpunkt sind wir, ein stattliches Grüppchen von an die 200 Wandervögeln, schon seit fünf Stunden mit Bergschuhen und Rucksack im Naturpark Jorat hoch über dem Genfersee unterwegs. Wobei, eigentlich sind wir ein Theaterpublikum. «Paysages partagés» ist ein internationales Projekt von Rimini Protokoll, kuratiert von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) und Caroline Barneaud (Theater Vidy-Lausanne). In sieben Inszenierungen zwischen Wald und Wiese soll die Natur nicht nur Bühne sein, sondern zur Protagonistin werden, wir als Publikum mittendrin und Teil des immersiven Abenteuers. Kann das gelingen, mit all der Technik, die dazu notwendig ist – angefangen bei den Kopfhörern, die sich für sieben Stunden um unseren Nacken oder über die Ohren schmiegen werden?

Mit dem Blick einer Drohne

Natur und Technik gelten oft als Gegensätze, als Antagonisten gar. Irgendwann bekommt man es auch hier zu hören: dass wir Menschen die Natur zerstören. Wir schütten Pestizide in die Kulturlandwirtschaft, bis bald der letzte Vogel verstummt. Wir treiben Bohrer tief ins Erdinnere, um schwarzes Gold oder Gold aus Gestein zu extrahieren, und hinterlassen dabei Löcher, die man sogar aus dem All erkennt. «Du hast mich entmenschlicht, kolonisiert, eingesperrt, gebändigt, als ‹das Andere› gebrandmarkt, um deine Gewalt gegen mich zu rechtfertigen», funkeln uns weisse Wörter auf lang gezogenen schwarzen Bildschirmen entgegen. Da sind wir schon ganz am Ende der Reise angelangt und auf einer sanften Anhöhe im Halbrund vor dieses Schriftband drapiert, um das sich Lautsprecherboxen stapeln, starre Statisten im Amphitheater der Natur, die zuweilen in unverständlicher Sprache aus ihnen raunt (Kollektiv Conde de Torrefiel, Spanien).

Wo die Auswüchse des Anthropozäns mit dem Vokabular der Kritischen Theorie beschrieben werden, ist die Sache natürlich komplizierter, mit Blick auf das Verhältnis zwischen Natur, Mensch und Technik könnte man auch sagen: dialektischer.

Das türkisch-belgisch-deutsche Duo Begüm Erciyas und Daniel Kötter führt uns das mit militärischen Bildgebungsverfahren vor Augen: einmal eher abstrakt anhand von Satellitenbildern aus dem umkämpften Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, deren Interpretation wir auf Klappstühlen sitzend in einer Broschüre nachzulesen haben; einmal so konkret und körperlich, dass einem im Bauch ganz mulmig wird. Letzteres beginnt mit einer Armee aus schwarzen Helmen, die in Reih und Glied vor uns im Gras liegen, und einem simplen Befehl: Aufsetzen. Die Helme sind mit Virtual-Reality-Brillen ausgestattet, durch die wir auf den ersten Blick dieselbe Umgebung sehen.

Bloss sind plötzlich die Nachbar:innen weg. Zwar höre ich sie noch, doch ist die Landschaft um mich menschenleer, und mir wird seltsam schwindlig, als ich mich um die eigene Achse drehe – als wären meine Füsse … weg! Auch die Hände, mit denen ich vor mir herumzufuchteln meine, sind weg. Und wie ich noch staune und erneut ins Gras hinunterschaue, scheine ich zu wachsen, grösser zu werden, als wäre ich ein Baum, der in den Himmel wächst, hoch und immer höher, über die nahen Baumwipfel am Waldrand hinaus. Nein, kein Baum. Aus wohl hundert Metern blicke ich über menschenleere Lichtungen und Hügel. Es ist der Blick einer Drohne.

Einmischung der Wolke

Diese Ambivalenz, die unsere Sinne verwirrt, gehört zur DNA von «Paysages partagés». Mal tritt sie vielschichtig, mal deutlich zutage, mal überraschend, mal unheimlich, mal ironisch. Sogar das Wetter spielt seinen Part. Wir sitzen auf einem Hügel verstreut im Gras und hören einem Bauern und einer Vogelstimmenforscherin zu, deren Zwiegespräch mitunter etwas angestrengt nach akademischer Vorlesung auf freiem Feld anmutet (Émilie Rousset, Frankreich). Da beginnt es, aus der einzigen Wolke am Himmel wie aus Kübeln zu giessen. Der Schirm, unter dem ich mich zusammenkauere, hilft nur wenig. Selber schuld, zu Beginn der Theaterwanderung wurden Pelerinen verteilt.

Die Technik hinter der Inszenierung gibt sich unbeeindruckt und ist im Gegensatz zum Naturspektakel so diskret und unaufdringlich, dass man schlicht vergisst, mit welchem Aufwand sie vor unseren Augen verborgen worden sein muss. Da sind nur die Kopfhörer als sichtbarer Teil. Sie filtern, verstärken, vermischen und überlagern die Sinneseindrücke, die wir über die Augen aufnehmen. Verschieben unsere Perspektiven auf Umgebung und Natur.

Bäume knarzen im Surround

Am Anfang streckten wir uns nach einer kurzen Wanderung durch den Wald noch arglos auf dem Laubboden aus, horchten der leicht verschnupften Kinderstimme und den erwachsenen Begleiter:innen, die dank ausgeklügeltem Surroundsound mitten zwischen uns zu wandeln schienen (Stefan Kaegi, Rimini Protokoll). Ihre Gespräche drehen sich um Naturkreisläufe, Leben, Tod und Angst, um Menschen in Japan, die zum Sterben in den Wald gehen – und plötzlich knarzen die Bäume im Sturm so bedrohlich, dass ich erstaunt die Augen aufreisse.

Ganz anders nutzen Sofia Dias und Vítor Roriz aus Portugal die Kopfhörer: Sie hocken quasi als Dirigent:innen in unserem Ohr und formen uns zu Choreografien. So halten wir alsbald Händchen und stapfen im Kreis, ahmen Vogelgeräusche nach und werden zu Baum, zu Stein, vereinen uns zu überirdischen Rhizomen. Ja, das könnte auch ins Esoterische kippen, wären da nicht die neckischen Zankereien zwischen den Dirigent:innen auf der einen und die in drei Farben codierten Kopfhörer andererseits: Wir erhalten unterschiedliche Anweisungen, und das sorgt immer wieder für poetische Überraschungen und Ironie.

Wie übrigens die Musik, die uns auf der Wanderung verfolgt (Ari Benjamin Meyers, Deutschland). Meist bleiben die Musiker:innen unsichtbar. Querflötentöne purzeln aus hohem Geäst auf uns nieder, einmal liegen die Menschen mit ihren Instrumenten nah am Pfad im hohen Gras unter Sonnenschirmen verstreut, nur die Tuba glitzert in der Sonne, dort fährt eine Hand den Stimmzug der Posaune aus. Dann ein Crescendo, und die Bläser:innen setzen sich auf, für wenige Sekunden nur, bevor sie erneut in der Wiese versinken.

Vom Zugang nur Natur

Die junge Frau im Rollstuhl erlebt das nicht mit. Sie surrt erst im Wald hinter der Pfadihütte in unsere Mitte und blickt in den Himmel hoch, als wir im Kopfhörer vom Parastronauten John McFall erfahren, dem ersten Astronauten mit körperlicher Beeinträchtigung. Dann bekommt sie, eingezwängt und behütet zugleich, in ihrem multifunktionalen Gerät ein Picknick serviert (Chiara Bersani und Marco D’Agostini, Italien). Das hier sei die einzige für sie zugängliche Stelle, sagt sie – wie fröhlich ihre Stimme klingt. Sie lädt das Publikum zu Tee und Gespräch. Dank Technik zur Natur, wenngleich eingeschränkt – auch das ist eine Erkenntnis dieses Theatertags. Zu spät erst kam mir in den Sinn, die junge Frau zu fragen, ob sie den Virtual-Reality-Helm hat ausprobieren können.

«Paysages partagés» in Chalet-à-Gobet. Sonntag, 28. Mai 2023, 4., 11. und 18. Juni 2023, jeweils 12.45 bis circa 20 Uhr. www.vidy.ch

Weitere Austragungsorte im Sommer 2023 und 2024: Theaterfestival Avignon, Ljubljana, Mailand, Lissabon, Berlin und St. Pölten. www.rimini-protokoll.de