Frankfurter Schule: Das Werk eines roten Millionärssohns

Nr. 21 –

Zu Unrecht vergessen: Hans-Peter Gruber erinnert in einer überfälligen Biografie an Felix Weil, einen der Gründer des berühmten Instituts für Sozialforschung.

Vor hundert Jahren wurde das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main gegründet, und ebenfalls vor hundert Jahren fand die «Marxistische Arbeitswoche» statt, bei der sich einige der für das Institut wichtigsten Personen trafen. Noch immer ist die Wahrnehmung der später so genannten «Frankfurter Schule» (oder der «Kritischen Theorie») dadurch verzerrt, dass die Anfänge und die Frühzeit des Instituts kaum zur Kenntnis genommen werden, weil sich alle auf die Jahre nach 1931 konzentrieren. Aber Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse spielten in den Anfangsjahren so gut wie keine Rolle.

Das IfS, das als Einrichtung für marxistische Forschung gedacht war, kam nur zustande, weil Felix Weil seinen vermögenden Vater überzeugt hatte, ein solches Institut zu finanzieren. Diesem Felix Weil hat nun Hans-Peter Gruber, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, eine lange überfällige Biografie gewidmet. Den Titel hat er Weils bis heute unveröffentlichter Autobiografie entlehnt: «Aus der Art geschlagen. Erinnerungen eines roten Millionärssohnes».

Der Vater als Mäzen

Felix Weil war der Sohn eines deutsch-argentinischen Getreidehändlers, ein wohlerzogener Bürgersohn aus reichem Hause, hochbegabt und vielseitig interessiert. Im Ersten Weltkrieg und während der Novemberrevolution radikalisierte er sich, wurde zum überzeugten Sozialisten und Marxisten.

Als Student in Frankfurt merkte Weil rasch, dass er von den erzkonservativen Professoren nichts über Marxismus oder Sozialismus lernen würde. Er wechselte nach Tübingen, wo er mit einer Arbeit zur Theorie der Sozialisierung promovierte. Im Revolutionsjahr 1919 fasste er den Plan, dem hochaktuellen, aber beim akademischen Establishment verpönten Marxismus eine Heimstätte zu schaffen. Ein Forschungsinstitut sollte es werden, an dem ein als Sozialwissenschaft verstandener und pluralistischer Marxismus in empirischer und historischer Arbeit erprobt und theoretisch weitergeführt werden sollte. Weil gewann rasch Mitstreiter für dieses Projekt – und seinen Vater als Mäzen. Weil war es auch, der im Mai 1923 die «Marxistische Arbeitswoche» organisierte – das erste Theorieseminar des Instituts, in dem die Richtung der künftigen Arbeit erörtert wurde.

Grubers Biografie, als Doktorarbeit entstanden, ist eng an den Quellen orientiert geschrieben, überaus detailreich, klar gegliedert und gut lesbar, wobei sich der Autor gelegentlich zu sehr auf Nebenwege einlässt. Weils unvollendete Autobiografie, in seinen letzten Lebensjahren verfasst und in verschiedenen Varianten vorhanden, dient ihm als Hauptquelle, aus der er reichlich schöpft. Für die Geschichte des Frankfurter Instituts und der Kritischen Theorie sind die Kapitel sieben und acht die wichtigsten. Hier beschreibt Gruber die Gründungsphase des Instituts (die ersten Jahre bis 1931, also die Zeit vor Horkheimer und Adorno), in der Weil und sein Freund Friedrich Pollock die Schlüsselrolle spielten. Ausführlich schildert er etwa die Umstände, die zur Berufung des Wiener Wirtschafts- und Sozialhistorikers Carl Grünberg zum ersten Direktor des IfS führten.

Lauter kreative Köpfe

Ebenso ausführlich geht Gruber auf die Lehrtätigkeit ein, die namentlich Weil und Pollock in Gang setzten. Diese Lehrveranstaltungen zogen Massen von Studierenden aus dem In- und Ausland an. So etwas gab es damals nirgendwo sonst: Vorlesungen und Seminare, in denen die Theorien von Marx und Engels und die «marxistischen Probleme», die sich daraus ergaben, offen und gründlich diskutiert wurden. Zu Recht betont Gruber diesen oft vernachlässigten und ausgeblendeten Aspekt der Institutstätigkeit in den zwanziger Jahren. Für die Universität Frankfurt war das IfS ein enormer Gewinn, wegen seiner originellen Forschungen, wegen seines Lehrangebots, wegen der vielen kreativen Köpfe aus dem In- und Ausland, die es anzog und denen man dort begegnen konnte.

Weil unterstützte das Institut auch weiter, als dieses ab 1933 im Exil weitergeführt wurde. Er war an den meisten grösseren Studien des Instituts beteiligt, so auch an der zur autoritären Persönlichkeit unter Adornos Leitung. Max Horkheimer wollte ihn als festen Mitarbeiter gewinnen. Die Rückkehr des Instituts nach Frankfurt 1950 empfand Weil als Zäsur, obwohl er sie mit Pollock vorbereitet hatte. Seit den fünfziger Jahren machte er einen klaren Unterschied zwischen dem ersten Institut der Gründungsphase und der ersten Jahre mit Grünberg und dem zweiten Institut, das im Exil und danach entstanden war.

Horkheimer als Verräter

Erst 1969 kehrte Felix Weil seinerseits nach Deutschland und nach Frankfurt zurück. Dort versuchte er, die Tradition des ersten Instituts wiederzubeleben, 1970 und 1973 hielt er Vorträge an der Frankfurter Universität über die Frühzeit des IfS. Er dachte an ein neues «Carl Grünberg Institut für die Geschichte und Theorie des Sozialismus und der Arbeiterbewegung». Weil wollte den Politikwissenschaftler Iring Fetscher dafür als Direktor gewinnen und die Sache auch finanzieren. Bitter sein spätes Urteil über die Entwicklung unter Horkheimer und Adorno: Horkheimer warf er vor, sich von der marxistischen Sozialwissenschaft abgekehrt zu haben, er sei zum Verräter an der marxschen Theorie geworden, was er ihm im Juni 1972 in Zürich auch ins Gesicht sagte.

Selbstkritisch vermerkte er, seine Übersiedlung nach Berlin 1929 sei ein Fehler gewesen. Er hätte öffentlich widersprechen und den Kampf um die Seele des Instituts aufnehmen müssen, als Horkheimer begann, sich vom pluralistischen Marxismus der ersten Jahre des Instituts zu entfernen und stattdessen seine eigene Sozialphilosophie zu entwickeln. Die Wendung zur Sozialphilosophie beschrieb Weil wenig schmeichelhaft als eine Liebschaft zwischen Philosophie und Soziologie. Damit habe Horkheimer «nichts Gutes geschaffen», so sein abschliessendes Urteil.

Dem Kommunismus nie erlegen

Gruber rettet mit dieser Biografie eine der für die Geschichte des IfS zentralen Persönlichkeiten vor dem Vergessen. Felix Weil war weit mehr als nur ein angeblich an der Wissenschaft uninteressierter Geldgeber und Organisator, wie ihn Horkheimer und erstaunlicherweise auch Pollock später schmähten. Seine Arbeiten zur Sozialisierung, seine grosse Studie zur Entwicklung Argentiniens, einem besonderen Fall von Kapitalismus in der Peripherie, seine Analysen zum Aufstieg des Faschismus in verschiedenen Ländern, darunter auch zur Rolle des Peronismus in Argentinien: All das weist ihn als produktiven und ideenreichen marxistischen Sozialwissenschaftler aus.

Als Sozialist, der er ein Leben lang war, ist er den Verlockungen des Kommunismus nie erlegen. Weil glaubte nicht an die Allmacht der Gewalt wie die Bolschewist:innen. Für ihn blieben Bildung und Erziehung der Schlüssel zur Hegemonie und damit zur Emanzipation der arbeitenden Klassen.

Buchcover von «‹Aus der Art geschlagen›. Eine politische Biografie von Felix Weil (1898–1975)»

Hans-Peter Gruber: «‹Aus der Art geschlagen›. Eine politische Biografie von Felix Weil (1898–1975)». Campus Verlag. Frankfurt am Main 2023. 776 Seiten. 70 Franken.