Wasserkraft : Aufstand der Frösche

Nr. 31 –

Im Bündner Hochtal Madris war in den achtziger Jahren ein riesiger Stausee geplant. Eine Ausstellung dokumentiert den Widerstand von damals – energiepolitisch wieder hochaktuell.

Weithin sichtbares Symbol des Widerstands gegen das Staudammprojekt: Madriser Hirten haben zahlreiche Steine zur «Langen Heidi» aufgetürmt.
Weithin sichtbares Symbol des Widerstands gegen das Staudammprojekt: Madriser Hirten haben zahlreiche Steine zur «Langen Heidi» aufgetürmt. Foto: Kaspar Schuler

Den neusten Eintrag im Museumsgästebuch hat «ein Kind vom Madris» geschrieben. Es sei sehr spannend zu hören und zu lesen, «was die Bevölkerung alles gemacht hat, und dass das Madris so schön geblieben ist», schreibt das Mädchen. Es hat das Glück, nicht im Schatten einer riesigen Staumauer aufwachsen zu müssen.

Das Val Madris, ein Seitental des Avers, ist eines dieser weitläufigen Bündner Hochtäler, die fast zentralasiatisch wirken. Mitte der achtziger Jahre planten die Kraftwerke Hinterrhein (KHR) hier einen gigantischen Stausee: ein Volumen wie der Grimselsee, die Mauer so breit wie jene der Grande Dixence. Beteiligt waren diverse Stromfirmen, auch die italienische Montedison. Der Standort sei doch ideal, sagte einer der Mailänder Verwaltungsräte in einem Fernsehinterview, da oben gebe es ja nur «spärlichste Lebensspuren von Menschen und Tieren».

Er hatte nicht mit dem Alphirten gerechnet.

Ihm, Kaspar Schuler, heute Präsident der Alpenschutzorganisation Cipra, wollte nicht in den Kopf, dass diese riesige Alp – und das grösste Grasfroschbiotop des Kantons – überflutet werden sollte. Der berühmten Greina-Hochebene, dem ähnlich beeindruckenden Val Curciusa und vielen weiteren Tälern drohte das Gleiche. 1986 gründete Schuler zusammen mit dem Bündner Umweltaktivisten Peter Lüthi die Arbeitsgruppe Val Madris-Curciusa.

Das Museum als Schutzhütte

Fast vierzig Jahre später widmet die Kulturplattform «hexperimente – die bühne im avers» dem Widerstand gegen den Stausee eine Ausstellung. Die Kuratorin und ehemalige SRF-Kulturredaktorin Ina Boesch hat einen engen Bezug zum Avers. Ihr Vater arbeitete zeitweise im Oberhalbstein, die Familie wanderte regelmässig über die Pässe ins Hochtal. Ab 2009 luden Boesch und die Musikwissenschaftlerin Corinne Holtz Kulturschaffende ins Tal ein, um regionale Dokumente aus der Zeit der Hexenverfolgung künstlerisch zu interpretieren.

Seit 2017 kuratiert Boesch Ausstellungen im Stall des «Nüwa Hus» in Avers-Platta, wo sie einen Teil des Jahres wohnt. Es ging bereits um Migration und um ein riesiges Tourismusprojekt, das in den sechziger Jahren im Avers geplant war. Und jetzt also, passend zu den aktuellen energiepolitischen Kontroversen, um Wasserkraft. Das Avers eigne sich gut, um «im Kleinen zu zeigen, was im Grossen läuft», sagt Boesch, die gerade auch ein Buch über das Tal veröffentlicht hat. Der Museumsstall ist rund um die Uhr offen – an diesem Gewittertag dient er auch einigen durchnässten Wander:innen als Schutzhütte. «Manche Einheimische sind noch spätabends nach dem Heuen vorbeigekommen», so Boesch.

Die Ausstellung zeigt Pläne des Kraftwerks, Flugblätter, Fotos und Texte des Widerstands: Die Naturschützer:innen zogen als Frösche verkleidet durch Chur, um eine Petition zu überbringen – die Kantonsregierung verweigerte die Annahme. Auf den Zürcher Paradeplatz trieben sie Ziegen, weil auch das Elektrizitätswerk der Stadt am Kraftwerksprojekt beteiligt war.

Im Zentrum der Ausstellung stehen Videos mit Zeitzeug:innen, ergänzt mit Filmaufnahmen von damals. «Die aus dem Unterland wollen wiedergutmachen, was unten schiefgegangen ist», kritisiert der ehemalige Gemeindepräsident den Aktivismus von Auswärtigen – ein Brief von zwanzig Avner:innen gegen das Kraftwerk zeigt allerdings, dass diese Interpretation zu einfach ist. Aber es stimmt, dass viele Einheimische zurückhaltend blieben. Die Wasserzinsen der bisherigen Projekte der KHR hatten Wohlstand ins Tal gebracht. Offen dagegen äusserten sich vor allem Frauen: wie Dorli Menn aus Juf, die erste Postautochauffeurin der Schweiz.

«Alli a weng zrugg»

Ein «alpines Atomstromlager» sei das Kraftwerksprojekt, sagten die Gegner:innen: Mit billigem Atomstrom sollte Wasser in den Stausee gepumpt und im Winter zu teurem Spitzenstrom turbiniert werden. Für die Basler Biologin Florianne Koechlin war der Widerstand im Madris die logische Weiterführung ihres Engagements gegen AKWs, wie sie in einem Video erzählt.

Heute dient der Klimanotstand als Argument für Landschaftszerstörung, und es ist schwieriger geworden, sich gegen Wasserkraftprojekte zu wehren – auch ein Kraftwerk im Val Madris könnte wieder auf den Tisch kommen. «Man kann eine Landschaft nicht fünfmal verkaufen», gibt der heutige Gemeindepräsident zu bedenken – sie könne nicht gleichzeitig Tourismus, Naturschutz und Energieproduktion dienen. Der ehemalige Alphirt Schuler weist auf das Potenzial von Solarenergie im Siedlungsgebiet hin, und eine über neunzigjährige Avnerin meint, sie habe noch ohne Strom gelebt und darum keine Angst. Es müssten halt «alli zäme a weng zrugg».

Das Madriser Kraftwerk wurde nicht gebaut – dank des strengeren Moorschutzes nach dem Ja zur Rothenthurm-Initiative, vor allem aber, weil es sich in der Stromschwemme der neunziger Jahre nicht mehr lohnte. Trotzdem ist Aktivist Lüthi überzeugt, dass der Widerstand entscheidend war für die Rettung von Greina, Madris und Curciusa: «Wenn wir nichts gemacht hätten, wären diese Täler verloren gewesen.»

«Gegen den Strom. Die verhinderte Flutung des Val Madris». Ausstellung in Avers-Platta, bis 19. August 2023. www.hexperimente.ch

Ina Boesch: «Schauplatz Avers. Geschichten einer Landschaft». Hier und Jetzt Verlag. Zürich 2023.