Durch den Monat mit Uschi Waser (Teil 1): Haben Sie die Akten alleine gelesen?

Nr. 44 –

Wie ein «Hilfswerk» das Leben von Uschi Waser zerstört hat. Und warum darüber zu reden ihr das Leben gerettet hat.

Uschi Waser sitzt am Tisch und arbeitet am Computer
«Ich sagte mir: ‹Ich lasse diese Geschichte nicht auf mir sitzen, für die muss die Schweiz geradestehen!›»: Uschi Waser.

WOZ: Uschi Waser, 1926 gründete Pro Juventute die Stiftung «Kinder der Landstrasse» mit dem Ziel, Kinder von Jenischen von ihren Familien zu trennen und so die Kultur der Fahrenden auszulöschen. Bis 1973 war die Stiftung aktiv. Auch Sie waren ein «Kind der Landstrasse», Sie haben Ihre Kindheit und Jugend in Dutzenden von Heimen verbracht. Seit Jahrzehnten sprechen Sie an Veranstaltungen darüber, Sie gehen in Schulen, reden mit Medien, sitzen in Gremien und an runden Tischen. Wann und warum haben Sie sich entschieden, mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?

Uschi Waser: Das war 1989, nachdem ich meine Pro-Juventute-Akten gelesen hatte. Bis da hatte ich die Geschichte der «Kinder der Landstrasse» mehr aus der Distanz verfolgt, ich hatte nicht das Gefühl, dass das so viel mit mir zu tun hat. Ich habe damals ein gutes Leben geführt. Ich habe mir immer gesagt: «Läck, Uschi, hast du ein Schwein gehabt. Du hast zwei Töchter, bist zwar geschieden, aber hast keine Probleme. Du bist zwar arm wie eine Kirchenmaus, aber du hast ein Autöli.» Ich war stolz auf meine Wohnung und überhaupt auf mein Leben, das ich trotz dieses Rucksacks, den ich mit mir rumtrage, hinbekommen hatte.

Und dann, nach dem Lesen dieser Akten, habe ich diese Uschi verloren. Und ich trauere ihr noch heute nach. Diese Unbeschwertheit ist weg und der Stolz …

Wie haben Ihre Kinder reagiert?

Die Grosse war damals siebzehn, sie sagte mal: «Ich will meine Mami von früher zurück.» Die Kleine war sieben. Lange dachte ich an kollektiven Suizid. Später wollte ich dieses Land, das mir so viel Leid angetan hatte, verlassen. Aus diesen Gründen und zum Schutze aller musste die Kleine über Jahre in eine Pflegefamilie. Dass ich an die Öffentlichkeit ging, war schliesslich meine Überlebensstrategie.

Das Reden hat Sie gerettet?

Ja, wenn ich nicht geredet hätte, wäre ich erstickt. Ausserdem sagte ich mir: «Ich lasse diese Geschichte nicht auf mir sitzen, für die muss die Schweiz geradestehen!» Was für mich auch ein unglaublicher Schock war: Ich wusste ja, ich habe keine Mami, die für mich da ist, und keinen Papi. Aber ich hatte bisher immer die Schweiz. Es war mir bis da gar nicht bewusst gewesen, dass die offizielle Schweiz und die Pro Juventute hinter meiner leidvollen Kindheit standen. Ich dachte immer, da stecke vor allem meine Mutter dahinter.

Mir ist auch wichtig, und das sage ich allen: Ich kann nur meine Geschichte erzählen. Aber es gibt im Bundesarchiv rund 600 Akten von «Kindern der Landstrasse» – tatsächlich waren mehr Kinder betroffen, aber Institutionen wie das Seraphische Liebeswerk liessen zum Teil Akten verschwinden.

Auch dieses «Hilfswerk» war aktiv in die Kindswegnahmen aus jenischen Familien involviert?

Ja. Und die einzelnen Schicksale sind zwar alle individuell, doch etwas verbindet sie: Alle «Kinder der Landstrasse» hatten nicht den Hauch einer Chance. Die Akten sehen alle gleich aus – es wird kein einziges gutes Wort über die Kinder geschrieben. Das gilt übrigens bei allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, auch bei den Verdingkindern und Zwangsadoptierten. Was bei uns Jenischen speziell ist: Es ging um das Auslöschen einer ganzen Volksgruppe. Schauen Sie, das ist die Pro-Juventute-Akte meines ersten Lebensjahrs. (Legt einen Ordner auf den Küchentisch). Lesen Sie mal hier auf der ersten Seite.

«Es muss unter allen Umständen verhütet werden, dass auf dem Umweg über ein uneheliches Kind der ältesten Schwester dieser Kinder ein neuer Ableger an Vagantität entsteht», heisst es hier.

Wenn du ein Neugeborenes als «erneuter Ableger an Vagantität» betitelst, dann ist sowieso alles verloren. Das muss man sich einmal vorstellen. (Flüstert.) Ich hätte diese Akten nicht lesen sollen.

Haben Sie die alleine gelesen?

Ja, aber hätte mir jemand gesagt, ich solle das nicht machen, hätte ich geantwortet: «Ach was, es ist ja mein Leben, ich weiss ja, was da war.» Beim Lesen entwickelst du eine Sucht. Es ist, wie wenn du einen spannenden Krimi liest oder eine Doku schaust: Du willst unbedingt wissen, wies weitergeht, und denkst: Nein, das kann doch nicht sein, was kommt denn noch als Nächstes! Und alles, wirklich alles, was in diesen Akten steht, ist menschenverachtend. Ich sage immer, ich war der Tschumpel der Nation – ein Stück Dreck.

In dieser Zeit habe ich ein Gedicht geschrieben für einen Minoritätenkongress in Toronto, das dort vorgelesen wurde. Mein erstes öffentliches Statement. Ich lese es Ihnen vor:

Zigeuner?
Zigeuner – sprichst Du Deine Sprache?
… durch Mauern dringen Mutters Worte nicht!
Zigeuner – hast Du Bruder und Schwester?
… aus Heimen und Anstalten lassen sich keine Bande knüpfen!
Zigeuner – was fühlt Deine Seele?
… dass ich nicht ein Kind, sondern Dreck der Landstrasse war!

Uschi Waser (71) wurde bis zu ihrem 14. Geburtstag ungefähr fünfzig Mal umplatziert. Heute lebt sie im Aargau. Nächste Woche spricht sie über die Ambivalenz des Wortes «Wiedergutmachung».