San Francisco: Warnung für andere Städte?
«Niedergang» und «Untergang» sind Vokabeln, denen man die Warnung nie ganz abnimmt, weil man ihnen den schönen Schauer mit anhört. Wenn sich Deutschland abschafft, wenn das Abendland untergeht, wenn eine einst grosse Institution im Niedergang steckt, dann hört man gewissermassen das Popcorn im Hintergrund knistern.
Ich lebe in einer Stadt im Niedergang. Einer Stadt, an deren Niedergang seltsamerweise die ganze Welt teilhaben möchte, an dem sie sich kaum sattsehen kann. Es geht San Francisco nicht gut im Jahr 2023: leerstehende Büros, darbende Industrie, Zeltstädte.
Vor wenigen Tagen lief ich die Market Street downtown entlang – an leeren Geschäften und halbleeren Restaurants vorbei, am riesigen «X», mit dem Elon Musk das Twitter-Hauptquartier versah, und das mittlerweile schon wieder abmontiert worden ist. Aber ich lief nicht allein. Zwei Personen, die irgendwann im Verlauf meiner etwa zwei Kilometer langen Wanderung, mit mir parallel gingen, schienen zu filmen und zu kommentieren – und zwar die leeren Geschäfte und halbleeren Restaurants. Ich nehme an, sie machten Tiktok-Videos. Touristen, die gekommen waren, um den Verfall der von ihnen besuchten Metropole zu dokumentieren und mit dieser Dokumentation, was weiss ich: Geld zu verdienen? Aufmerksamkeit zu ergattern? Ihre Follower:innenzahlen zu erhöhen?
Ich fand die Herren mit ihren Smartphones interessant, gerade weil das, was sie taten, nicht wirklich neu war. Die Welt hat grosses Interesse an San Francisco und seinen Untergängen. In wie vielen Hollywood-Filmen werden wir bombardiert, beschossen, von Tsunamis ersäuft, von Erdbeben heimgesucht? An unserer Zerstörung hat man eine Lust, die bei Denver oder Houston keine:r zu verspüren scheint. In wie vielen Zeitungen weltweit werden den Problemen der «liberalen Hochburg» grosse Artikel gewidmet?
Ob die Gegenkultur, Aids oder heute die Krise der Technologieindustrie: Die kaum kaschierte Lust, mit der jeder vermeintliche Niedergang dieser Stadt begleitet wird, will aus diesem «Sodom an der Bucht» ein Menetekel, gar eine gerechte Strafe machen. Es handelt sich um eine retrospektive Deutung – die verlotterten Werte, die progressiven Ideen sind schuld. Der unmoralische Lebenswandel der Einwohner:innen sowieso, die Drogen und der Sex. Dabei gab es die Obdachlosen in ihren Zelten und, ja, auch die zugenagelten Geschäfte schon längst, als alle an die Bucht von San Francisco pilgerten, um Zukunft zu schnuppern. Fernab vom Moralismus, will der Blick auf San Francisco in der Stadt eines nicht sehen: die eigene Zukunft. Ein Indiz dafür, wie die Pandemie unsere Lebens- und Arbeitswelt umgekrempelt hat, vielleicht unwiderruflich? Ein Menetekel für andere Städte? Dann doch lieber die Stadt der Freaks, die endlich abkriegt, was sie verdient.
Immer freitags lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.