Verkehrswende: Aus dem Tritt geraten
Deutschland scheitert an der Verkehrswende, Amerika legt gleich mehrere hin. An der Valencia Street in San Francisco kann man beobachten, wie sie sich verheddern. In einer ihrem Selbstverständnis nach innovationsverliebten Region, die sich in Wahrheit mit Neuerungen nicht immer leicht tut, prallen vollmundige Versprechen von einer technologisch brillanten Zukunft auf die krasse Unfähigkeit, auch nur zögerlichste Schritte jenseits der Gegenwart zu gehen.
Vor Covid-19 war die Valencia Street eine beliebte Ausgehmeile. Während der Pandemie war die Strasse hingegen eine Vision einer anderen, neuen Stadt: teilweise verkehrsberuhigt, mit unzähligen kleinen «parklets» (Miniparks), den verschiedenen Restaurants und Cafés zugeordnet. Dazwischen jede Menge Fahrräder und Kinderwagen. So traurig die Stadt im Lockdown auch war, an diesen Aspekt konnte man sich gewöhnen.
Seitdem auch San Francisco aus seinem virusbedingten Schlaf erwacht ist, werden behutsame verkehrstechnische Neuerungen schrittweise zunichtegemacht. An der Valencia Street weichen die parklets einer nach dem anderen den Parkbedürfnissen der Lieferfahrer und Uber-Taxis. Im einstigen Radlerinnen- und Fussgängerparadies San Francisco werden beide Gruppen mittlerweile nur noch toleriert. Immerhin haben sie in der Stadt aber eine Lobby. So beschloss man, zumindest den Fahrrädern ein Trostpflaster zu gönnen: einen zweispurigen Radweg. Und zwar in der Strassenmitte, mit Plastikpollern von den Autospuren zur rechten und zur linken geschieden. Das Design sei weltweit einzigartig, hörte man vor der Eröffnung. Seit dieser weiss man auch, warum: Den ganzen Sommer parken Autos auf den Fahrradwegen, sitzen Fahrräder in der Mitte der Fahrbahn fest oder werden von abbiegenden Autos erfasst.
Nicht mehr aus dem Stadtbild San Franciscos wegzudenken sind seit einigen Jahren die selbstfahrenden Fahrzeuge des Unternehmens Cruise. Zunächst bemannt mit einer menschlichen Aufsichtsperson, aber bald auch ohne. Dieses Jahr häufen sich die Beschwerden. Die autonomen Mobile agieren äusserst hasenfüssig: Anstatt in Terminatormanier durch die Stadt zu brettern, bleiben die Autos bei jeder kleinen umweltlichen Irritation stehen. Das ist auf jeden Fall besser als die Alternative, aber die autonomen Fahrzeuge sind für San Francisco, was die Klimakleber auf deutschen Strassen sind: Hinter ihnen stauen sich Rettungsfahrzeuge, Busse und jede Menge hupende Fahrer:innen. So eben auch auf der Valencia Street. Und nach einigen Minuten des Hupens fahren die Autos quer über die Plastikpoller und den neuen Fahrradstreifen her.
Gewiss: Elektromobilität wird für die Erfüllung der Klimaziele wichtig sein. Vielleicht ist auch autonomes Fahren ein Teil der Lösung. Aber man kann in San Francisco schön beobachten, wie stark hier im Namen ostentativer Innovation eigentlich vor genuin Neuem zurückgeschreckt wird. Anstatt einer Strasse, auf der nur Elektroautos surren oder nur Autos ohne Fahrer, wie wäre es – aber das wäre der Innovation eindeutig zu viel! – mit einer Strasse ohne Autos?
Immer freitags lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.