Bundeskanzler: In Griffnähe der Macht
Wenn man den Texten, die zum Rücktritt des Bundeskanzlers Walter Thurnherr erschienen sind, glauben darf, dann war Thurnherr entweder brillant, blitzgescheit oder beides zugleich. Formell fungierte er als Stabschef des Bundesrats, war dafür zuständig, die Bundesratssitzungen zu leiten, die Traktanden festzulegen und dann und wann zwei Regierungsgspänli, die sich in die Haare gekriegt hatten, zur Seite zu nehmen.
Vor allem aber, so ist zu lesen, war der «Mitte»-Mann der hellste Kopf in Bundesbern. Das lässt sich alleine schon daran erkennen, dass er seinen Reden, die er an Kongressen oder bei Jubiläen hielt, Zitate berühmter Staatsmänner voranstellte, vornehmlich solche von Churchill. In diesen Reden wie auch in den Interviews, die er am liebsten der NZZ gewährte, manifestierte er sich als Kritiker der Zustände. Der sozialen Medien, der Medien überhaupt, des Politbetriebs, der Öffentlichkeit und deren Erwartungen, die etwa Bundesräte dazu brächten, sich als Schauspieler auf der Bühne gerieren zu müssen.
Dieses sympathische, aber etwas wohlfeile Hadern mit dem Zeitgeist mag der wirkungslosen Rolle des Bundeskanzlers geschuldet sein: ganz nah dran an der Macht, die aber doch unberührbar bleibt. Wenn jetzt den Grünen nahegelegt wird, sie müssten das Amt für sich beanspruchen, damit sie irgendwie auch im Bundesrat vertreten seien, dann ist der Partei doch dringend davon abzuraten. Politische Macht in der Schweiz entsteht im Zusammenspiel von Partei, Fraktion, Exekutive und dem riesigen Verwaltungsapparat. Und nicht in der Kabinettspolitik und mit eitlen Reden. Vielmehr geeignet scheint das frei werdende Amt des Bundeskanzlers als Abklingbecken für die FDP, sollte sie – wonach es derzeit ausschaut – im Herbst den Anspruch auf zwei Bundesratssitze gänzlich verwirkt haben.