Amerikanische Unis: Vorsicht, optische Krümmung!

Die US-amerikanische Universität ist ein Objekt beträchtlichen Interesses in Europa, und man kennt sie auch einigermassen gut. Na ja, man weiss immerhin zu gut Bescheid, um noch zu merken, was man nicht weiss. Wenn in Yale ein Streit über ein Wohnheim eskaliert oder in Berkeley ein Redner ausgepfiffen wird, erscheinen garantiert Artikel in deutsch- und französischsprachigen Leitmedien. Andere Entwicklungen aber, die für die Universität (und die Gesellschaft) der USA weitaus grössere Schatten vorauswerfen, glänzen fast vollständig mit Abwesenheit. Obwohl es sich lohnt, auf vermeintliche Nebenschauplätze zu schauen.

Die West Virginia University (WVU) ist die grösste und bedeutendste öffentliche Hochschule im Bundesstaat West Virginia. Die Uni ist mit ihren 30 000 Studierenden keine der grossen öffentlichen Universitäten und geniesst einen guten Ruf, aber kein Spitzenrenommee. Seit diesem Sommer aber ist die WVU unter amerikanischen Akademiker:innen ein Fanal. Ihr ambitionierter Präsident hatte beim Versuch, die Student:innenzahlen nach oben zu hieven, in grosse Bauvorhaben investiert. Gleichzeitig strich die von Republikaner:innen dominierte Staatsregierung in der Hauptstadt Charleston der Uni immer mehr Gelder. Daraus ergab sich eine finanzielle Schieflage. Um diese zu korrigieren, sollen nun 170 Professor:innen gefeuert, verschiedene Departments gleich ganz geschlossen – und sämtliche Lehrkräfte vor die Tür gesetzt werden.

Was das Spektakel in Virginia so erschreckend macht: erstens die Unbeirrbarkeit der Uni-Administratoren, die kaum zu verstehen scheinen, wie eine Uni funktioniert und wozu sie eigentlich gut ist. Zweitens das Ziel ihrer Kürzungen, nämlich vor allem Geisteswissenschaften, die an US-Unis tendenziell eher Geld einbringen als kosten (das liegt nicht an den Geisteswissenschaftler:innen selber, sie brauchen nur eben keine Labore oder Elektronenmikroskope). Und drittens die wahnhafte Techsprache und der per Flüsterpost an Silicon Valley geschulte Solutionismus: Als es darum ging, wer denn nun den Student:innen der WVU Sprachen beibringen soll, wenn alle Fremdsprachen-Departments rausfliegen, wurde allen Ernstes die App Duolingo ins Spiel gebracht. Für eine:n Nichteinwohner:in von West Virginia kostet ein Jahr WVU immerhin 27 000 Dollar. Stellen Sie sich vor, Sie berappen das – und dann sagt man Ihnen, dass Sie Ihren Russischkurs per Umsonst-App machen dürfen.

Womit wir wieder bei einer optischen Krümmung wären, die sich beim europäischen Blick auf diese Unis ergibt. Denn man könnte ja meinen, diese hypothetischen Student:innen könnten einfach woanders hingehen. Fast die Hälfte der Undergraduates an der WVU kommen aus West Virginia, bezahlen also die viel geringere «in-state tuition». Eine andere Uni bedeutet für sie entweder komplette Unerschwinglichkeit oder massive Schulden. Fast ein Viertel der Student:innen kommen aus armen Familien. Mit ihren Entscheidungen vermittelt die Universität den Eindruck, dass den jungen Menschen dieses Bundesstaats, so sie sich kein Auswärtsstudium leisten können, ja eigentlich nur ganz bestimmte berufsvorbereitende Majors zustehen.

Als Aufstiegsmotor ist das US-amerikanische College in den letzten Jahrzehnten stark ins Knirschen gekommen. WVU ist der Moment, wo dieses Versprechen ganz aufgegeben wird.

Immer freitags lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.

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