Wohnungskrise: Wer darf hier noch leben?
An einer Party in Oerlikon spreche ich mit einem jungen Mann. Auf Englisch, natürlich. Seit ein paar Jahren lebt er in der Schweiz, arbeitet bei Glencore und wohnt in Zug. Als er mir ein Foto seiner Wohnung zeigt, verschlägt es mir die Sprache. Es sieht aus wie ein Penthouse in Manhattan. «Ich kenne niemanden in der Schweiz, der so wohnt», sage ich zu ihm. «Meine Arbeitskollegen beneiden mich. Ich zahle nur 3800 Franken Miete für zwei Zimmer. Ein Schnäppchen», sagt er.
Wir befinden uns in einer Krisensituation. Viele finden keinen bezahlbaren Wohnraum – ein immer grösserer Teil des Lohnes geht allein dafür drauf, ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir müssen uns nur in unseren Quartieren umschauen, um zu sehen, dass die ganze Zeit gebaut wird. Die Frage ist nur: Für wen und zu welchem Zweck? Die Immobilienfirmen und Vermieter:innen erzielen immer höhere Renditen mit dem Bau von Luxuswohnungen. Der Mieter:innenverband geht davon aus, dass der Ertrag aus missbräuchlichen Mieten allein im Jahr 2021 über zehn Milliarden Franken betrug. Mit dem existenziellen Bedürfnis, zu wohnen, wird Profit gemacht.
Wir können nicht alle bei Glencore arbeiten und wollen das auch nicht. Ebenso können wir nicht alle 3800 Franken für die Miete ausgeben. 3800 Franken beträgt der Nettolohn meiner Tante, die ebenfalls in Zug lebt und in einem Altersheim als Putzfrau arbeitet. Die Wohnfrage ist auch eine Klassenfrage.
Mein ehemaliger Englischlehrer lebt heute als Rentner ausserhalb der Stadt Zürich. Er ist in der Stadt aufgewachsen, hat hier an der Universität studiert, sein Leben lang am Gymnasium in der Stadt unterrichtet und hier gewohnt. Nun hat sein Vermieter alle rausgeschmissen und wird in seiner Wohnung auf halber Höhe einen Boden einbauen. Das ergibt dann: die doppelte Anzahl Wohnungen für das Vielfache des vorherigen Mietpreises. Mein ehemaliger Lehrer erhält eine gute Rente. Die Wohnungskrise betrifft so viele von uns, selbst die Mittelschicht wird aus den Städten rausgedrängt.
Was bleibt dann übrig? Internationale Nomad:innen zum Beispiel, die viel Geld verdienen und für Google an der Zürcher Europaallee arbeiten. Vielleicht ziehen diese Leute in ein paar Jahren weiter, nach London oder New York. Aber die Menschen, die eben auch zu einer Stadt gehören, werden immer weiter hinausgedrängt. Menschen, die in dieser Stadt aufgewachsen sind, die hier leben, arbeiten und Familien gründen. Menschen, die hier eine Vergangenheit haben und vor allem eine Zukunft haben wollen.
Das Wohnen ist ein Menschenrecht, und wenn wir in unseren Städten keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden, dann ist es höchste Zeit, Widerstand zu leisten. Morgen Samstag, 4. November, um 15 Uhr findet die grosse Wohndemo in Zürich auf dem Turbinenplatz statt.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.