Nun sind wir hier angelangt: Das ist meine letzte Gastkolumne für die WOZ.
Als ich im Oktober letzten Jahres den Anruf von der Redaktion erhielt, dachte ich mir: Endlich so richtig auf die Kacke hauen! Endlich die Dinge sagen, die ich schon immer sagen wollte. Das habe ich auch getan, und es hat mir grossen Spass bereitet. Diese Woche habe ich meine Texte nochmals gelesen, alle, und mir wurde selbst ein wenig unwohl dabei. Habe ich zu fest auf die Kacke gehauen? Gewisse Aussagen sind pathetisch. War ich manchmal ein wenig aufklärerisch und moralisierend unterwegs? Ja, vielleicht.
Wollte ich euch mit diesen Texten sagen, dass es Armut in der Schweiz gibt und dass sie uns und unsere Eltern entmenschlicht? Ja.
Wollte ich über die alltäglichen Kämpfe berichten, die die Unterschicht auch im reichsten Land führen muss? Ja.
Wollte ich die Unsichtbarkeit des migrantischen Lebens (und damit meine ich nicht die Expats), die Unsichtbarkeit der Arbeiterinnen, insbesondere der alleinerziehenden Mütter, sichtbar machen? Ja.
Das Schreiben fühlte sich demzufolge manchmal schwer an, als ob eine Gruppe unsichtbarer Menschen mir im Nacken sässe und riefe: «Go, girl, sag es ihnen!»
Ich wollte sichtbar machen, analysieren und argumentieren. Ich wollte erklären. Manchmal habe ich dafür recherchiert und nach Zahlen gesucht (aber nur manchmal). Das Geile an der Kolumne ist, dass sie keine Beweise benötigt. Das bedeutet: Ich liess meinen Gefühlen freien Lauf. Meine Mutter kommentierte meine Kolumnen mit «Wieso bist du so aggressiv?» und «Eigentlich bist du noch nur eifersüchtig auf die reichen Schweizer».
Aber meinen eigenen Ton fand ich erst nach mehreren Kolumnen. Ich will euch nichts mehr erklären, ich will euch etwas erzählen. Denn: Studien zu Armut wurden selbst in der Schweiz auch schon gemacht, die Fakten sind da. Aber die Schrecklichkeit dieser Verhältnisse offenbart sich erst im Schicksal der einzelnen Menschen. Wie schläft und träumt ein Kind, dessen Eltern nicht Deutsch sprechen und unter Armut leiden? Diese Geschichten wollte ich euch erzählen. Und das Ganze muss nicht immer traurig und ernst sein, nur weil es politisch ist, auch diese Erkenntnis hatte ich mit der Zeit. Ich will euch und mich selbst unterhalten! Das Leben ist nämlich schwierig genug im SVP-Land, und so sind auch lustigere Texte entstanden wie die Kolumne über Konsum, weil ich beim Schreiben endlich eine Leichtigkeit empfand.
Die Kommentare und DMs besonders von «Ausländerinnen» (ja, es waren vor allem Frauen) haben mich sehr berührt. Wenn sie mir schrieben, sie hätten beim Lesen gelacht oder geweint, wusste ich, das waren die Menschen, die mir im Nacken sassen und riefen: «Go, girl, sag es ihnen!»
Ich habe diese Verantwortung mit Liebe angenommen, und diese mir unbekannten Menschen motivierten mich immer wieder, denn ja, es ist verdammt anstrengend, jede Woche einen guten Text zu schreiben, und ich weiss, dass nicht alle gut waren.
Auf die Freiheit der Unterdrückten in der Schweiz, bis alle Häuser kaufen, Austern essen und Champagner trinken. Au revoir, auf Wiedersehen!
In insgesamt 23 Texten hat Migmar Dolma in dieser Kolumne von ihrer Lebensrealität als Gewerkschafterin, Literaturliebhaberin, Feministin, Rassismusbetroffene und Schweizerin berichtet. Hier finden Sie alle Texte gesammelt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Migmar für die wertvolle Arbeit und freuen uns darauf, bald in anderen Kontexten von ihr zu lesen.
Ab Freitag, 5. April, schreibt Hanna Gerig an dieser Stelle. Sie ist Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für Geflüchtete engagiert. Gerig wird in den Texten ihre Erfahrungen in dieser Arbeit reflektieren.
Kommentare
Kommentar von yaaww
Fr., 29.03.2024 - 23:51
Liebe Migmar, es gibt in deinen Kolumnen so viele für mich vertraute Situationen. Wenn die hellblau geschnippte Münze freitags auf der Startseite erschien, war ich gespannt, was sich dieses Mal wieder dahinter verbirgt. Beim Lesen musste ich immer wieder feststellen wie nicht nur ähnlich, sondern auch isoliert und somit unsichtbar die Realitäten meiner (und vielen anderen migrantischen) Eltern und deren Kinder sind. Deshalb: Danke für deine Entschlossenheit und Mut dieser Gruppe eine Stimme zu geben!