Im Stich gelassen

Das SMS verändert den Abend schlagartig. Wie schwarze Tinte breiten sich die paar wenigen Sätze des Mädchens in mir aus, die gemütliche Stube und die fröhlichen Gespräche unserer Gäste werden zum dissonanten Hintergrundrauschen.

Mehrere Jahre habe ich Menschen in Ausschaffungshaft besucht. Egal wie vertraut die Gespräche manchmal wurden, eines Tages teilte das Gefängnissekretariat immer mit: Der Besuchte ist nicht mehr im ZAA, dem «Zentrum für ausländerrechtliche Administrativhaft». Ich konnte nicht anders, als mich daran zu gewöhnen.

Einmal aber, da traf mich die Nachricht einer Ausschaffung wieder mal in aller Heftigkeit. Es war, als das Mädchen ausgeschafft wurde, das mir jetzt wieder ein SMS schrieb.

Sechs Jahre ist es her, dass sie im Kinderheim abgeholt worden ist, neben die Mutter in den Polizeiwagen gesetzt, an den Flughafen gebracht und nach Sri Lanka abgeschoben wurde. Sie war zehn Jahre alt, als die Ausschaffung wie ein kleiner Tod in ihr Leben schnitt. In der Schweiz ist sie geboren.

Einen Vater kannte sie nie. Ihre Mutter muss furchtbare Dinge erlebt haben. Sie kam damals schwanger in der Schweiz an. Hier bekam sie ihr Kind, das sie so nie gewollt hat. In ihrer Überforderung hat die Mutter es geschlagen, seit es klein war. Einmal hat sie dem kleinen Mädchen kochendes Wasser über den Kopf geleert. Ich weiss nur das, und es genügt mir. Die Kesb hatte einschreiten müssen. Im Kinderheim ging es dem Mädchen von Monat zu Monat besser.

Jetzt war sie der Mutter, die selbst wieder – diesmal durch Schweizer Behörden – Gewalt erfuhr, schutzlos ausgeliefert. Die Mutter schien nach der Ausschaffung den Verstand verloren zu haben, ihre Sprachnachrichten waren nur heiseres Weinen. Sie schickte mir Fotos der Schürfverletzungen, die die Handschellen der Schweizer Polizei an ihrem Handgelenk zurückgelassen hatten. Die Sprachnachrichten der Tochter zerrissen mir das Herz. «Hilf mir, ich will zrugg id Schwiiz cho.» Weinend und schreiend wiederholte das Mädchen den Satz immer und immer wieder.

Da sassen Menschen beim Migrationsamt in ihrem Büro, die diese Ausschaffung vorangetrieben und organisiert hatten. Am Abend fuhren sie nach Hause, froh, gut vorwärtsgekommen zu sein.

Zusammen mit Leuten, die die Familie besser kannten, habe ich damals alle Hebel in Bewegung gesetzt. Ein Anwalt prüfte eine Beschwerde beim Uno-Kinderrechtsausschuss. Alles half nichts – ausser dem Geld, das wir dann schickten für eine Wohnung und die Schulgebühren. Lange hörten wir nicht mehr viel. Ich war erleichtert.

Und nun schreibt mir das Mädchen. Sie schreibt von der Gewalt der Mutter, der sie noch immer ausgesetzt ist. Ich weiss nicht, woher sie die Worte hat, die sie wählt, ich weiss nicht, was passiert ist, was passiert, aber das SMS steht auf meinem Handy. Jetzt.

Ich wollte eigentlich noch eine Zigi rauchen, die Beine von mir strecken und ein bisschen über den Regen reden oder so. Das geht jetzt nicht mehr.

Immer wieder frage ich mich, ob die Gewöhnung etwas Gutes ist. Aber ich weiss, dass sie es ist. Ich wär sonst schon lange weg. Und vor allem meine grossartigen Kolleg:innen in der aktivistischen Rechtsarbeit, die Woche für Woche die Botschaft negativer Asylentscheide überbringen, die wären schon längst wieder weg.

Ihre Arbeit bewahrt uns alle vor der Ohnmacht, Rechtlosigkeit zu empfinden.

Heute hat die Ohnmacht mich trotzdem eingeholt.

Die Gewöhnung hat mich im Stich gelassen.

Und ich weiss, dass die Hunderten von Freiwilligen, die den Migrationsämtern schreiben, mit Mitarbeiter:innen von Sozialdiensten diskutieren, Schulleitungen angehen und Petitionen starten – dass sie alle von der Gewöhnung im Stich gelassen wurden.

Das Solinetz baut darauf auf.

Einige Angaben wurden zwecks Anonymisierung geändert.

Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.