Die britische Wissenschaftlerin und Gewerkschafterin Deepa Govindarajan Driver war eine von nur zwei offiziellen Prozessbeobachter:innen im Fall Julian Assange. Im Gespräch ordnet sie seine plötzliche Freiheit ein.
WOZ: Frau Govindarajan Driver, Julian Assange ist Dank eines Deals mit dem US-Justizministerium frei und konnte offenbar bereits aus Grossbritannien ausreisen. Wie sehr haben diese Neuigkeiten Sie als langjährige Beobachterin des Falls überrascht?
Deepa Govindarajan Driver: Ich hatte natürlich immer Hoffnung. Aber als ich gestern Nacht diese Neuigkeit hörte, hat sie mich genauso überrascht wie alle anderen. Wir engen Beobachter:innen des Falls wussten zwar, dass Assange mit dem US-Justizministerium am Verhandeln war. Doch Details sind nie nach draussen gedrungen. Die Verhandlungen wurden im allerengsten Kreis geführt.
Warum kommt der Deal genau jetzt?
Da kann ich nur spekulieren: Es geht das Gerücht um, dass Julian Assange in sehr schlechter gesundheitlicher Verfassung ist. Und sowohl in den USA als auch in Grossbritannien läuft derzeit der Wahlkampf. Gut möglich, dass die Politiker:innen beider Länder nicht riskieren wollten, dass ihm ausgerechnet jetzt etwas Gravierendes zustösst. Möglich ist auch, dass die USA einem Deal zugestimmt haben, weil der Londoner High Court im Mai entschied, dass Assange gegen seine Auslieferung Berufung einlegen dürfe. Der High Court sah die Zusicherung der USA, dass für Assange im Falle einer Auslieferung der von der US-Verfassung garantierte Schutz der Pressefreiheit gelten würde, als ungenügend an. Vielleicht haben sich aber in der US-Regierung auch einfach jene Kräfte durchgesetzt, die einsehen, dass dieser Fall eine einzige Groteske ist.
Julian Assange war in den USA der Spionage in siebzehn Fällen und des Vorwurfs des Computermissbrauchs angeklagt, im drohten 175 Jahre Haft. Nun muss er offenbar nicht ins Gefängnis; der Deal sieht im Gegenzug dafür vor, dass er sich in einem Punkt schuldig bekennt. Können Sie erklären, in welchem?
Ja, er wird sich der Verschwörung zur unrechtmässigen Beschaffung und Verbreitung von geheimen Unterlagen schuldig bekennen. Das ist freilich ein Eingeständnis im Sinne der USA. Die Vereinbarung mit der Justiz bringt aber einen entscheidenden Unterschied zu einer regulären Verurteilung. Wäre Assange schuldig gesprochen worden und hätte ein Berufungsgericht dieses Urteil bestätigt, dann wäre der Fall womöglich zu einem Präzedenzfall in Sachen Pressefreiheit und Demokratie geworden – auf den sich Gerichte in anderen Fällen hätten stützen können. Ein Deal hingegen kann nicht zum Präzedenzfall werden.
Julian Assanges Freilassung ist also ein halber Sieg für die Pressefreiheit?
Sie ist sicher kein hundertprozentiger Sieg. Zumal man auch festhalten muss: Nur schon, dass Julian Assange vierzehn Jahre eingesperrt war, hat der Pressefreiheit enorm geschadet. Denn sagen Sie mir: Würden Sie sich als Journalistin heute noch trauen, die Guantanomo-Files zu veröffentlichen? Würde sich Ihr Arbeitgeber noch trauen, solche Daten zu veröffentlichen? Doch trotz alledem glaube ich, dass Assanges Freilassung eine enorme Bedeutung hat – und zwar über die Frage hinaus, wie sie aus rechtlicher Sicht eingeordnet werden muss. Und vor allem darüber muss nun gesprochen werden.
Welche Bedeutung?
Es haben sich enorm viele extrem kluge und interessante Leute für Assange eingesetzt. Sie haben nicht einfach nur für ihn gekämpft, sondern für das Prinzip, dass die Bevölkerung das Recht hat, von den Verbrechen zu wissen, die in ihrem Namen begangen werden. Die USA haben im Irak und in Afghanistan mutmasslich systematisch Kriegsverbrechen verübt. Julian Assange war mit Wikileaks entscheidend an der Aufdeckung dieser Verbrechen beteiligt. Er hat auch dazu beigetragen, dass bekannt wurde, in welchem Ausmass die USA ihre Verbündeten ausspioniert haben.
Für all dies wurden die USA nie zur Verantwortung gezogen.
Bis heute existiert ein Gefängnis namens Guantánamo. Dreissig Männer sitzen dort immer noch ein, sechzehn von ihnen werden längst nicht mehr als eine Gefahr für die Sicherheit der USA eingestuft und trotzdem nicht freigelassen. Während Julian Assange nun freikommt, werden ganz viele Schwarze, braune oder muslimische Menschen nie Gerechtigkeit erfahren. Dennoch hat Assanges Fall auch für sie eine Bedeutung: Er zeigt, dass Individuen gegen den Staat aufstehen können. Dass es Leute gibt, die mutig genug dafür sind und bereit, die Konsequenzen zu tragen, die es hat, wenn man die Mächtigen herausfordert.