Feriengrenzziehungen

«Endlich Ferien!», überall ungebrochene Vorfreude. Mir ist das nicht geheuer. Lange rätselte ich über die Frage, was es ist, das mir jeden Sommer diese vielen kleinen Stiche versetzt, wenn sich rundherum Leute übers Weggehen freuen. Eifersucht ist es nicht. Ich mache ja selbst Sommerferien und könnte mich, freier als viele andere, jederzeit aus dem Staub machen.

Es geht um den Bruch, der hier jedes Mal geschieht, ohne dass der Ausschluss, den er vollzieht, bedauert würde. Der Ausbruch der grossen Sommerferien ist das hemmungslose Zurschaustellen einer scharfen Grenzziehung, eingewickelt in Zuckerwatte:

Arbeiten ist gut, aber ich brauche auch Zeit für mich. Engagement ist wichtig, aber jetzt muss ich selbst Kraft tanken. Ich fahre Velo und kaufe das ganze Jahr Bio, aber diesen Flug gönne ich mir. Ja, ich öffne meinen Freundeskreis für geflüchtete Menschen, aber «meine Familie» ist immer noch die eigene, die echte.

Ferien machen etwas überdeutlich, und zwar etwas, das wir mit unseren Projekten für geflüchtete Menschen während des ganzen Jahres zu überwinden versuchen: Die Ungleichheit, die uns trennt, die Ignoranz, welche sich die einen überziehen können, die anderen nicht. Geflüchtete Menschen können, mindestens solange sie hier im Asylsystem stecken, keine Ferien machen. In den Ferien schliessen sich viel eher die wenigen Türen, zum Beispiel zu den Deutschkursen, die sonst offen sind. Sie müssen aushalten – wir können hinschauen oder wegfliegen, über Grenzen, die uns nicht kümmern und nicht töten.

Mich geht die schwierige Lebenssituation von geflüchteten Menschen nur wahlweise etwas an. Das sage ich ihnen natürlich nicht, und doch schwingt es in der Sommerluft mit und ich stelle mir vor, dass es verletzend ist. Verletzende Realität, schöne Ferien!

Und auch wenn es vielleicht viele Geflüchtete nicht als verletzend empfinden, sondern bloss den Wunsch haben, selbst bald Ferien zu machen – vielleicht dann nicht in Griechenland –, so bleibe ich doch hängen bei der Abgrenzung, die Ferien markieren.

«Abgrenzung» ist tatsächlich ein Wort, das in vielen Merkblättern für Freiwillige im Asylbereich steht. Ist es noch gesund, wenn ich nachts wach liege, weil mich die drohende Ausschaffung meines Tandempartners beschäftigt? Es heisst, man müsse das richtige Mass an Nähe respektive Distanz finden. Das wird dann anhand konkreter Beispiele in Workshops geübt. Wann muss und will ich mich abgrenzen?

Welche Erleichterung; wenigstens die Sommerferien muss man nicht üben!

Neben der Grenze, die Ferien zwischen den einzelnen Menschen ziehen, haben sie für mich noch einen weiteren unheimlichen Kern. Ich erfrische mich zwar an der Leichtigkeit von Menschen, die sich haltlos auf ihre Kajakfahrten in Schweden freuen, aber ihr Jubeln erinnert mich jedes Jahr auch daran, dass das Ausblenden des Weltgeschehens und der eigenen Verantwortung auch eine Option ist. Wenn das Ferienmotto «Deine Sorgen sind nicht meine Sorgen» ganzjährig um sich greifen würde, würde Solidarität auf dem Abfallhaufen der Gesellschaft landen.

Doch das geschieht zum Glück ja nicht, es sind ja nur Ferien, und wenn wir so leben, arbeiten und uns engagieren, wie wir es tun, sind Ferien enorm wichtig. Ich weiss das! Aber ich glaube einfach, dass da eigentlich etwas faul ist. Haben wir unsere Leben und die Welt so eingerichtet, dass es nötig geworden ist, regelmässig alle und alles links liegen zu lassen?

Immer freitags gab es an dieser Stelle die Kolumne unserer Gastautorin Hanna Gerig zu lesen. Mit diesem Text verabschiedet sie sich von ihren Leser:innen und bedankt sich herzlich für die vielen Zuschriften, die sie ermutigen, weiterzuschreiben. Sie hofft, dafür einen Ort zu finden, macht nun aber erst mal Sommerferien.
Wir danken Hanna Gerig vielmals für ihre wertvolle Arbeit und freuen uns auf weitere Gastbeiträge in der Zukunft.