Klimaurteil: Schweiz ganz unschuldig

Die Schweiz tut bereits genug für den Klimaschutz. Zumindest behauptet das der Bundesrat in einer Stellungnahme vom Mittwoch als Reaktion auf das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). In seinem historischen Urteil vom 9. April stellt der EGMR fest, die Schweiz verletze mit ihrer unzureichenden Klimapolitik die Menschenrechte der Klimaseniorinnen, die eine entsprechende Klage eingereicht hatten. Das Gericht urteilte, das Land tue nicht genug gegen die fortschreitende Klimaerwärmung, und forderte dabei gleich die Formulierung konkreterer Zielsetzungen.

Der Bundesrat nimmt in seiner Mitteilung vom Mittwoch eine widersprüchliche Haltung ein: So betont er einerseits die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention – und kritisiert andererseits im nächsten Satz deren Auslegung durch den Gerichtshof. Mit der Stellungnahme folgt der Bundesrat dem National- und dem Ständerat, die in der Sommersession beide zum Schluss kamen, die klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz seien ausreichend – ohne dies mit Zahlen zu belegen.

Insbesondere mit dem revidierten CO2-Gesetz, das im März vom Parlament beschlossen wurde, sowie mit dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung aus erneuerbaren Energien, die im Urteil nicht berücksichtigt worden seien, erfülle die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils, so der Bundesrat.

Tatsächlich schliesse man mit den erwähnten Gesetzen Regulierungslücken, die im Urteil kritisiert worden seien, bestätigt Georg Klingler, der die Klimaseniorinnen von Beginn weg bei ihrem Gang durch die Institutionen begleitet hatte. «Damit erreicht man aber nicht die nötige Wirkung», sagt der Greenpeace-Mitarbeiter. Dafür brauche es weitergehende Massnahmen.

«Schon das Parlament hat bei seinen Behauptungen keine Zahlen vorgelegt, nun tut der Bundesrat dasselbe», kritisiert Klingler. Beim Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) heisst es, man wolle dies nachholen: «Wir wollen die entsprechenden Dokumente so schnell wie möglich publizieren, klären aber noch rechtliche Fragen ab», sagte die Uvek-Sprecherin Franziska Ingold.

Greenpeace kritisiert insbesondere, dass die Schweiz bislang keine konkreten Zahlen zu einem nationalen CO2-Restbudget nennt. In seinem Urteil definierte der EGMR die Festlegung eines solchen als Voraussetzung, um einordnen zu können, ob ein Land genug für den Klimaschutz tue. Eine Gruppe von 29 Wissenschaftler:innen und Expert:innen im Bereich Klimaschutz kommt zum Schluss, dass die Schweizer Klimaziele zu bescheiden sind: Diese führen demnach zu deutlich mehr CO2-Ausstoss, als ein CO2-Budget erlauben würde, das sich auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels beziehen würde. Roman Bolliger, der Sprecher der Gruppe, sagt: «Auch mit den vom Bundesrat erwähnten neuen Gesetzen legt die Schweiz bisher kein CO2-Restbudget fest. Schätzt man zudem ab, was die festgelegten Absenkpfade in Bezug auf ein solches CO2-Restbudget bedeuten könnten, stellt man fest, dass diese wohl bei weitem nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel kompatibel sind. Dies gilt zumindest, wenn man von bestimmten Annahmen ausgeht.» Eine dieser Annahmen sei etwa, das eine Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent angestrebt werde. Es brauche daher umgehend eine Diskussion dazu, was ein angemessenes verbleibendes CO2-Restbudget für die Schweiz wäre.

Spätestens bis Anfang Oktober wird der Bundesrat dem Ministerkomitee des Europarats, das die Urteile des EGMR überwacht, Bericht erstatten müssen. Ob sich das Komitee mit der Erklärung wird abspeisen lassen, man tue bereits genug, ist fraglich.