Es ist keine Woche her, für eine Lesung aus meinem Buch «Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen Rechts» fahre ich ins beschauliche Schmölln. Schmölln ist ein unscheinbarer, durchaus schöner, kleiner thüringischer Ort mit fast 14 000 Einwohner:innen – und einer grossen neonazistischen Kampfsportszene. Deshalb gibt es hier eine von Ehrenamtlichen eingerichtete Notfall-App für Betroffene von Rassismus und rechter Gewalt. Faschoattacken sind in Schmölln alltäglich. Spätestens seit der Landtagswahl finden antifaschistische Veranstaltungen immer mit Security oder unter Polizeischutz statt. So auch meine Lesung in der Kletterhalle in Schmölln, an der fünfzig Personen teilnehmen.
Ich lese aus meinem Buch, erzähle von meiner Jugend als linker Aktivist im sächsischen Zwickau. Es geht um Anfeindungen, um Gewalt, aber auch um Mut, Organisierung und Widerstand. Die anschliessende Diskussion geht mir nahe und schockiert mich: Nachdem ich über den rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und dessen Untertauchen in Zwickau referiert habe, meldet sich eine Frau. Sie erzählt von ihrer Begegnung mit der NSU-Terroristin Beate Zschäpe, die im örtlichen Supermarkt an der Kasse gearbeitet hatte. Die Frau erzählt, wie freundlich Zschäpe doch immer gewirkt habe. Es meldet sich ein Mann, der das Mikro ergreift und aufgewühlt von seiner Schwester erzählt: Sie sei immer «unpolitisch» gewesen, kandidiere mittlerweile aber für die AfD und lichte sich mit dem AfD-Faschisten Björn Höcke für Facebook-Posts ab.
Eine junge Frau, Anfang zwanzig, tritt nach vorne, und sofort stehen ihr die Tränen in den Augen. Sie erzählt von ihrer Schulzeit, davon, wie sie in ihrem engeren Umfeld einen sich radikalisierenden Neonazi wahrnahm. Als sie davon berichtet, dass dieser wenige Jahre später mit seinem Kumpel einen queerfeindlichen Mord begangen haben soll, stockt mir der Atem. Bis heute werde der Mord offiziell nicht als rechte Gewalttat anerkannt. Sie erzählt, dass sie sich schäme, damals nichts gesagt zu haben. Heute plage sie ein verdammt schlechtes Gewissen. Sie betont, dass es an uns allen liege, anders zu handeln. Damit hat sie das Schlusswort, die Veranstaltung ist vorbei.
Hier, wo ich lebe, haben Geschichten wie diese Struktur! Sie sind in ein politisches Klima eingebettet: Nachdem Unbekannte am Bahnhof von Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern immer wieder eine Regenbogenfahne gegen eine Hakenkreuzflagge ausgetauscht hatten, beschloss der Stadtrat letzte Woche das Abhängen der Regenbogenfahne. An der Entscheidung beteiligt: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Gut, der Rechtsdrall von Parteien wie der CDU ist nichts Neues, doch das BSW-Stimmverhalten zeigt: Putin-Nähe und Queerfeindlichkeit haben sich gefunden – was sonst? Daraufhin: Rücktritt des queeren Oberbürgermeisters. Der politische Nährboden, auf dem der rechte Hass wächst, umfasst längst mehr als die AfD. Die Geschichte lehrt: Steigbügelhalter machen sich mitschuldig!
Jakob Springfeld (22) ist eines der Gesichter der linken Gegenöffentlichkeit Ostdeutschlands. Sein 2022 erschienenes Buch «Unter Nazis» trägt auch deshalb den Untertitel «Jung, ostdeutsch, gegen Rechts». In seiner wöchentlichen Kolumne berichtet er bis zum Jahresende jeweils freitags aus seiner Lebensrealität als antifaschistischer Aktivist in Sachsen.