Kühler Herbstabend im Oktober: Ich treffe mich mit drei Kumpels, mit denen ich 2020 aus meiner Heimat im sächsischen Zwickau nach Halle in Sachsen-Anhalt gezogen bin. Wir sitzen in einer Bar und quatschen über den Osten. Tommy beginnt: «Ich war am Wochenende bei Freunden in Bremen, abends haben wir einen Typen getroffen, der uns gefragt hat, woher wir kommen. Ich meinte dann so: aus Sachsen.» Er: «Sachsen, das ist da drüben im Osten, bei uns gibts hier so Hip-Hop und Multikulti, und dort ist es cool, Nazi zu sein.» Tommys Statement dazu: «Dikker, halts Maul!»
Ja, der Osten hat ein Faschoproblem, aber wir, die wir hier zivilgesellschaftlich und antifaschistisch aktiv sind, haben auch einfach mal das Recht dazu, ihn verdammt geil zu finden. Klar fällt es mir oft schwer, bei all den Nachrichten über rechte Gewalt, Rassismus und AfD-Erfolge die lebenswerten Seiten Ostdeutschlands zu sehen, aber «Hip-Hop und Multikulti» gibts auch hier bei uns, im dunkelsten Dunkeldeutschland, und deswegen ist dieser Text so was wie eine Liebeserklärung.
In einer neuen ARD-Doku erzählt die Chemnitzer Hip-Hop-Legende Trettmann vom Stress mit Neonazis in der Nachwendezeit und widerlegt auch gleich eindrücklich das Gelaber von Leuten, die meinen, dass es in Ostdeutschland keine Rapkultur gäbe. Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre entstand bei uns eine Szene, aus der 1998 das grösste bestehende deutsche Hip-Hop-Festival hervorging: das Splash. Und fuck, wie geil ist es bitte, wenn US-Rap-Grössen wie Lil Uzi Vert, Kendrick Lamar oder A$AP Rocky hier bei uns, in Sachsen-Anhalt, auf der Bühne stehen?! Mal abgesehen von all den krassen Punkerkneipen oder alternativen Zentren, für die wir das Leben hier oft lieben.
Und auch über ganz klischeehaftes Ossi-Essen kommen wir an diesem Barabend ins Gespräch: Habt ihr schon mal Spirelli mit Tomatensauce und Jägerschnitzel verkostet oder Wickelklösse aus dem Erzgebirge probiert? Habt ihr euch mal Tote Oma, ein thüringisches Gericht aus Grützwurst, zu dem oft Sauerkraut und Kartoffeln gereicht werden, gegönnt? Ich bin ehrlich, Tote Oma ist nichts für mich, aber so banal wie das klingen mag: Essen wie Klösse, saure Gurken oder Soljanka verbinden uns hier einfach, und dieses nostalgische Gefühl, das uns allein beim Gedanken an diese Speisen in den Kopf schiesst, ist einfach schön.
Ostdeutschland ist für uns neben dem Struggle mit Faschos, dem Abgehängtsein und den alltäglichen Bedrohungen auch: der Zusammenhalt unter den Menschen, mit begrenzten Mitteln Lösungen zu finden, eine verbindende Vergangenheit, die Plattenbauromantik, versiffter Rap von Finch, die linke Szene, mit der Simme übers Feld fahren und das Stück Erde, auf dem unsere Freunde und Familien leben. Dafür bin ich dankbar, und deswegen lieb ich den Osten sehr oft. Oder um es mit den Worten des Rostocker Rappers Pöbel MC in seinem Track «90sOST» zu beschreiben:
Von allе sind unzufrieden, obwohl sie es auch lieben,
Von wir wollen hier weg, doch haten jene, die nicht blieben,
Es gibt keine Heimat, nur Geschichten, die prägen.
Jakob Springfeld (22) ist eines der Gesichter der linken Gegenöffentlichkeit Ostdeutschlands. Sein 2022 erschienenes Buch «Unter Nazis» trägt auch deshalb den Untertitel «Jung, ostdeutsch, gegen Rechts». In seiner wöchentlichen Kolumne berichtet er bis zum Jahresende jeweils freitags aus seiner Lebensrealität als antifaschistischer Aktivist in Sachsen.