Literatur: Auch wieder typisch ostdeutsch
Vor der Landtagswahl in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zwei Romane zum Dagegenhalten: Paula Irmschler und Carolin Krahl erzählen vom Erwachsenwerden im Ostdeutschland nach der Wende.
Sie habe das Bedürfnis, über die Welten zu schreiben, aus denen sie komme – gerade weil diese in der Literatur eher wenig beachtet würden, sagte Paula Irmschler kürzlich in einem Interview anlässlich ihres zweiten Romans, «Alles immer wegen damals». Irmschler wurde 1989 in Dresden geboren und hat in Chemnitz studiert; mit diesen Welten meint sie also einerseits Ostdeutschland, insbesondere das Leben dort als politisch links stehender Mensch; andererseits aber auch das Aufwachsen in einer Familie mit wenig Geld.
Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg lohnt sich ein genauer Blick momentan besonders. Dort gewann die AfD bei der Europawahl im Juni deutlich; in Brandenburg mit fast 28 Prozent, in Thüringen und Sachsen mit gar über 30 Prozent Stimmenanteil. Für die Landtagswahlen liegt die AfD in Umfragen mit jeweils um die 30 Prozent ebenfalls vorn.
Türknallen, Weglaufen
Paula Irmschlers Debüt, «Superbusen» (2020), drehte sich um eine Gruppe von Freund:innen in Chemnitz, die sehr an dieser schlecht angebundenen, politisch rechts geprägten Kleinstadt leiden, sie irgendwie trotzdem lieben und die aus Lust und Langeweile eine Band gründen.
Man kann dieses Buch als leichten Poproman lesen; allerdings werden hier eben auch Dinge präzise beschrieben, die nicht oft literarisch verarbeitet werden – wie es zum Beispiel ist, als antifaschistische Gegendemonstration bei einem Naziaufmarsch von Rechtsextremen geradezu überrollt zu werden. Oder wie man als links oder migrantisch aussehende Person in Chemnitz nachts nach einer Party sicher nach Hause kommt, ohne von Rechten abgepasst und verprügelt zu werden.
In ihrem zweiten Roman wendet sich Irmschler nun statt der Wahl- der Kernfamilie zu: «Alles immer wegen damals» wechselt zwischen den Perspektiven von Tochter Karla und Mutter Gerda. Karla hat dem Osten den Rücken gekehrt, ist nach Köln gezogen und wartet dort sehnsüchtig darauf, dass aus ihrer Fernbeziehung mit Natalie (die dummerweise in Leipzig lebt), eine echte Familiensituation mit Kind und Kegel wird. Gerda lebt nach wie vor in Leipzig, hat die vier Kinder alleine grossgezogen, ist gerade wieder einmal frisch getrennt und damit recht zufrieden: «Single mit 59. Na, das ist doch gerade noch mal gut gegangen.» Zwischen Karla und Gerda herrscht seit einiger Zeit Funkstille, aber jetzt macht Karlas Schwester Mascha den beiden ein gemeinsames Geschenk, das eher einem Attentat gleicht: einen Ausflug nach Hamburg zu zweit, mit Übernachtung und Tickets fürs «König der Löwen»-Musical.
«Alles immer wegen damals» ist eigentlich ein melancholisches Buch, aber mit viel Humor und witzigen Detailbeobachtungen erzählt. Hier wird eine Menge gehadert und trotzdem immer weitergemacht – bis sich Gerda und Karla in einer Hamburger Kneipe gegenübersitzen und innert kürzester Zeit einen Streit eskalieren lassen, samt den üblichen Techniken: billige Provokationen, Ablenkungsmanöver, zu steile Angriffe, Schmollen, Türknallen und Weglaufen. Und dann so tun, als wäre nichts gewesen.
Freundschaft im Dreieck
«Wühlen», das Debüt der Leipziger Autorin Carolin Krahl, kommt da nachdenklicher daher. Krahl ist 1988 ebenfalls in Dresden geboren; auch ihr Buch ist ein Familienroman, der sich in ihrem Fall um die zwei Schwestern Franz und Kris sowie deren Freundin Ana dreht. Aufgewachsen sind die drei im fiktiven sächsischen Ort Wühlen; im Buch wechseln die Perspektiven von der stillen Kris zur lauten Franz und zwischendurch zu Ana. Alle sind manchmal müde vom Leben, wollen doch nicht aufgeben, schlagen sich mit prekären Jobs gerade so durch, dass es auch noch für ein bisschen Kunst reicht.
Auch Franz und Kris haben sich mit der Zeit immer weiter auseinandergelebt und denken doch dauernd aneinander. Ana steht daneben und dazwischen; nun ist sie es, die die Notizen und Briefe der Schwestern ordnet, sich über die komplizierte Freundschaft im Dreieck Gedanken macht.
Weiter gibt es in «Wühlen» Transkripte von Radiosendungen sowie Notizen zu der historischen Forschung, die Ana und Kris in einem Recherchebuch sammeln. Hier tragen sie Informationen und Thesen zur Geschichte von Frauen in der DDR zusammen, immer mit dem Anliegen, dieses heute so klischierte Bild der starken, unabhängigen, sexuell freizügigen «Ostfrau» zu differenzieren – etwa durch den Einbezug von Vertragsarbeiterinnen aus Moçambique, Vietnam oder Polen, die in diesem Bild kaum mitgedacht werden. Auch die Rückschläge, die die feministischen Bewegungen im Osten wie im Westen nach der Wende verbuchen mussten, oder die rechtsextremen Anschläge der neunziger Jahre werden hier thematisiert.
Krahls Vorgehen ist gewagt, und es ist erstaunlich, dass diese so unterschiedlichen Teile des Buchs nicht auseinanderfallen. Vielmehr fügen sie sich zu einer schlauen literarischen Studie über (Frauen-)Biografien im Osten, gerade auch nach der Wende.
Dinge anders versuchen
Die Projektion «Ostfrau» weist auch Irmschlers Gerda von sich, die sich selbst immer wieder damit beschäftigt, was das denn heisst, ostdeutsch zu sein. Als Frau und Mutter unabhängig zu sein etwa, hatte in ihrem Fall auch damit zu tun, dass der Mann halt abgehauen war – da blieb einem bei all der Arbeit oft nichts anderes übrig, als die Kinder sich selbst zu überlassen. «Aber rumheulen will Gerda deshalb heute auch nicht, das bringt nichts mehr. Das ist wahrscheinlich auch schon wieder typisch ostdeutsch.»
Irmschler hat «Alles immer wegen damals» in einem Interview «Arrangierungsroman» genannt. In der Umkehrung geht es dabei auch immer darum, womit man sich eben nicht abfindet: Während sich Karla vorzugsweise in die eigenen vier Wände zurückzieht, engagiert sich Gerda seit neustem gegen die auch in Leipzig immer aggressivere Gentrifizierung. Das Sich-Arrangieren, so Irmschler im Interview, sei eben auch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: Wer keine Wohnung habe, könne sich nicht darin verkriechen; wer wenig oder kein Geld habe, könne sich ein Leben in der Stadt, in der man sich gerne entfaltet hätte, vielleicht gar nicht leisten.
Bei Krahl wird stärker noch die Abnutzung betont: vom jahrelangen Kämpfen und Dagegensein, von den Strapazen, die das Linkssein in einer politisch garstigen Umgebung sowie prekäre Lebensumstände mit sich bringen. In einem öffentlichen Briefwechsel mit der Autorin Kaśka Bryla, mit der sie die Literaturzeitschrift «PS» herausgibt, schreibt Krahl übers Linkssein, dass dieses heute für viele auch eine Form von Prekariat bedeute: «Irgendwo nicht ganz mitspielen, bei der Lohnarbeit zum Beispiel, Dinge anders versuchen, wie mit unserer Zeitschrift ‹PS›, und damit zurechtkommen, dass man finanziell und kräftemässig am Limit lebt.»
Solche den Umständen abgetrotzte Lebensentwürfe werden in «Wühlen» sichtbar gemacht; trotz all der Schwere ist es auch ein Buch, das Mut macht. Die drei Protagonistinnen versuchen, sich mit unterschiedlichen Mitteln durchzuschlagen, immer mit der Frage nach der eigenen Haltung im Rücken, welche Kompromisse man eingehen kann, welches Geld in Ordnung ist, wo man Abstriche machen muss.
Das geschieht manchmal auch über die Schmerzgrenze hinaus: Bei Krahl landen beide Schwestern irgendwann in der psychiatrischen Klinik, mit Burn-out und Depression, suchen mühsam nach Wegen, wieder einigermassen ins Leben zu finden. Als eine Art linken Coming-of-Age-Roman kann man «Wühlen» so auch lesen: Entspricht der Weg, den man beim Erwachsenwerden einschlägt, zumindest einigermassen den eigenen Werten? Bei einigem wird man vielleicht dagegenhalten können, mit anderem sich arrangieren müssen. Nur schon mit der Familie, die einfach für immer und ewig an einem kleben bleibt.
Paula Irmschler: «Alles immer wegen damals». dtv Verlag. München 2024. 320 Seiten. 36 Franken.
Carolin Krahl: «Wühlen». Verlag Trottoir Noir. Leipzig 2024. 298 Seiten. 36 Franken.