Seit dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die Russische Föderation ihre Invasion begann, sind tausend Tage vergangen. «Hast du dazu irgendeinen besonderen Gedanken?», frage ich meine Kollegin aus Charkiw, während wir unsere Reise nach Sumy vorbereiten, eine Stadt nordöstlich von Kyjiw. Erst vor wenigen Tagen wurde dort ein Wohnhaus erneut Ziel russischer Angriffe – Zivilist:innen wurden getötet oder verletzt. Ihre Antwort ist knapp und ernüchternd: «Für mich ist es bloss ein weiterer Tag in einem Krieg, der seit mehr als zehn Jahren andauert.» Ein weiterer Tag, der von Durchhalten, Weitermachen und Nicht-Aufgeben geprägt ist.
«1000 Tage Resilienz», schreibt das ukrainische Aussenministerium auf Instagram – ein Versuch, Mut zu machen. Doch die Realität bleibt düster: Die Bilanz nach zweieinhalb Jahren Invasion und mehr als zehn Jahren Krieg im Donbas ist erschütternd. Zehntausende Zivilist:innen sind ums Leben gekommen. Ein Drittel des Landes ist vermint, und fast zwanzig Prozent des Territoriums stehen unter russischer Kontrolle. Auch in den Strassen von Kyjiw rumoren nach den jüngsten Angriffen auf die Energieinfrastruktur wieder die Stromgeneratoren. «Zum Glück ist es noch nicht so kalt», scherzen Freund:innen, während sie abends in ihren dunklen Wohnungen sitzen.
Dass US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Ende seiner Amtszeit eine weichenstellende Entscheidung trifft und offenbar den Einsatz weitreichender US-amerikanischer ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland erlaubt, haben sich viele hier schon gar nicht mehr zu hoffen getraut. Die Debatte zog sich lange hin, deshalb mischt sich in die Erleichterung auch Bitterkeit: Warum erst jetzt? Warum musste so viel Leid geschehen, bevor diese Entscheidung fiel? Berichten zufolge war wohl der Einsatz nordkoreanischer Soldaten durch Russland das ausschlaggebende Moment – und nicht die Massaker in Butscha, die Zerstörung von Mariupol oder die unerbittlichen Angriffe auf Städte wie Charkiw, Saporischschja, Cherson, Kramatorsk oder Pokrowsk.
Das grösste Problem in der Zusammenarbeit mit den westlichen Partner:innen bleibt, dass sie auf Ereignisse nur reagieren, anstatt proaktiv Massnahmen zu ergreifen, die russische Luftangriffe verhindern könnten. Jeden Tag gehen die Angriffe weiter. Wieder werden Telefonate mit dem Kreml geführt. Dieses Mal hat es Deutschlands Kanzler Olaf Scholz versucht, doch Moskau zeigt kein Interesse daran, den Krieg zu beenden. Die grösste Sorge der ukrainischen Bevölkerung – selbst unter denen, die mittlerweile Kompromissbereitschaft signalisieren – ist, dass Verhandlungen bloss eine Atempause für die russischen Angreifer bedeuten. Die Ukrainer:innen haben erfahren, dass es nicht nur Frieden und Krieg gibt, sondern etwas dazwischen. Einen unsicheren Zustand, eine Art Zwischenkriegszeit, die bedeutet, dass die Lage jederzeit erneut eskalieren kann.