Während die Menschen in Syrien den Sturz von Diktator Baschar al-Assad feiern, schwelgt rund 120 Kilometer nördlich der syrischen Handelsmetropole Aleppo Recep Tayyip Erdoğan in Eigenlob: Er und Putin seien «zwei Menschen, die noch zu den führenden Persönlichkeiten der Welt gehören. […] Ich habe 22 Jahre im Amt hinter mir. Auch Putin steht dem nahe. Alle anderen wurden eliminiert oder verliessen das Land.» Das sagte der türkische Präsident am Wochenende bei einem Besuch in der Grossstadt Gaziantep, in der rund eine halbe Million syrische Flüchtlinge leben sollen.
Das Zitat sagt sehr viel über Erdoğans Sicht auf die Welt aus – und tatsächlich könnte er einer der grössten Gewinner von Assads Sturz sein. Dreizehn Jahre lang hatte er mit dem Bürgerkrieg vor seiner Haustür zu kämpfen; er unterstützte die islamistische HTS, die nun Assads Regime stürzte. Damit könnten gleich zwei Träume Wirklichkeit werden: Die mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, kann Erdoğan demnächst vielleicht abschieben lassen. Der Präsident hatte sie einst als «Brüder und Schwestern» willkommen geheissen – bis der Unmut über die vielen Zugezogenen in der türkischen Bevölkerung immer grösser wurde. Es gibt viele Stimmen, die kritisieren, dass Erdoğan inmitten der eigenen Wirtschaftskrise die Geflüchteten lieber aushalte, statt sie abzuschieben. Nun bietet sich dem Präsidenten die Gelegenheit, die unliebsamen Gäste loszuwerden.
Zudem, und das ist der zweite Traum von Erdoğan, sind die syrischen Kurd:innen die Verlierer des Umsturzes in Syrien. Dieser könnte ihm dabei helfen, seine geopolitische Agenda voranzutreiben. Das türkische Militär ist seit 2016 mehrmals in Syrien eingefallen mit dem Ziel, den Islamischen Staat oder kurdische Militante zurückzudrängen und eine Pufferzone entlang der Grenze zu schaffen. Mittlerweile kontrolliert die Türkei einen Landstrich entlang der Grenze in Nordsyrien.
Während sich die Welt über den blitzartig erfolgten Sturz des Assad-Regimes wundert, bombardiert das türkische Militär Nordsyrien, um die Kurd:innen hinter dem Euphrat noch weiter nach Osten abzudrängen.