Nationalrat: Genozid an Jesid:innen anerkannt
Der Jubel fiel leise aus, um den Ratsbetrieb nicht zu stören. Aber die Freude war spürbar: Mit 105 zu 61 Stimmen bei 27 Enthaltungen anerkannte der Nationalrat heute den Völkermord, den die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) 2014 an den Jesid:innen beging. Für die knapp zwei Dutzend Jesid:innen auf der Zuschauer:innentribüne ein wichtiges Zeichen. Die meisten von ihnen waren aus Deutschland angereist, wo heute die grösste jesidische Exilgemeinschaft lebt. Die Jesid:innen werden seit Jahrhunderten verfolgt: Der Genozid von 2014 ist der 74., den sie in ihrer Geschichte zählen.
Am 3. August 2014 fiel der IS in die nordirakische Region Sindschar ein. Seine Kämpfer ermordeten bis zu 10 000 Menschen; sie vergewaltigten, verschleppten und versklavten 7000 Frauen und Kinder, von denen 2500 noch immer als vermisst gelten. Die Uno, die EU und die Parlamente verschiedener Staaten, darunter jene Deutschlands und Frankreichs, haben den Völkermord bereits als solchen anerkannt.
Mitverfolgt haben die Debatte im Nationalrat auch Ido Delshad und Farhad Ismail, die selbst aus dem Irak geflüchtet sind. Sie hatten 2023 eine Petition ans Parlament lanciert, in der sie die Anerkennung des Genozids forderten (siehe WOZ Nr. 32/24). Das Anliegen ging an die Aussenpolitischen Kommissionen der Parlamentskammern. In jener des Nationalrats haben Sibel Arslan (Grüne) und Fabian Molina (SP) die Erklärung ausgearbeitet, die der Nationalrat heute angenommen hat. Delshad und Ismail hatten schon in Deutschland, wo sie leben, auf die Anerkennung des Völkermords durch den Bundestag hingearbeitet. Ihnen sei wichtig gewesen, dass es danach weitergehe, sagt Delshad: «Auch in der Schweiz.»
Auf der Zuschauer:innentribüne des Nationalrats sassen heute auch Überlebende des Genozids. Nichirvan Ajo geriet als Sechsjähriger in die Fänge der Terrormiliz. Seine Schwester Sepan Ajo wurde von IS-Kämpfern vergewaltigt. Vor allem für die Frauen, die in IS-Gefangenschaft sexualisierte Gewalt erlebt haben, sagt sie, sei die heutige Anerkennung ein wichtiger Schritt. Und für die Gerechtigkeit, fügt sie an: «Täter, die aus dem Irak oder aus Syrien in die Schweiz zurückkehren, sollten vor Schweizer Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden.» Wie auch in Deutschland: Dort war der Genozid 2023 in zwei Prozessen erstmals als Straftatbestand mitverhandelt worden.
Khalaf Saado, der heute ebenfalls in Bern anwesend war, erhofft sich nach der Erklärung des Nationalrats einen sicheren Aufenthaltsstatus. Seit sechs Jahren lebt er als vorläufig Aufgenommener in der Schweiz, sein Bruder wurde vor einiger Zeit abgeschoben. Die Situation sei schwierig, sagt er. Sicher ist die Rückkehr in den Irak für Jesid:innen bis heute nicht.
Mit der Anerkennung des Genozids verabschiedet der Nationalrat eine Bitte an den Bundesrat, sich international für die Wiedergutmachung der Verbrechen einzusetzen. Im Irak leben noch immer Tausende Jesid:innen als Geflüchtete in Camps. Für sie erhofft sich die jesidische Gemeinschaft nun Hilfe von der Schweiz.