Serbien: Die Macht liegt auf der Strasse

Der serbische Ministerpräsident Miloš Vučević von der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) ist heute Morgen nach neunzig Tagen andauernden Student:innenprotesten zurückgetreten. Vučevićs Rücktritt ist der jüngste Beweis dafür, welche Kraft die Proteste in Serbien inzwischen entwickelt haben. Begonnen hatten sie im November, nachdem bei einem Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad fünfzehn Menschen ums Leben gekommen waren. Der Bahnhof war erst frisch renoviert und neu eröffnet worden, was den Verdacht weckte, dass Gelder in die Taschen von SNS-Funktionär:innen gewandert waren statt in die Bauarbeiten. Die Proteste erfassten in der Folge das ganze Land und mündeten in einem Aufruf zum Generalstreik, dem vergangenen Freitag viele Serb:innen gefolgt sind. 

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić – der eigentliche Herrscher im Land – zog es vor, den Tag dieses Generalstreiks nicht in Belgrad zu verbringen. Stattdessen liess er Zehntausend An­hän­ger:in­nen aus dem ganzen Land in die zentralserbische Kleinstadt Jagodina karren, um dort eine Kundgebung zu inszenieren, die der Gesellschaft eine breite Unterstützung seiner Regierungspartei vorgaukeln sollte. Laut unabhängigen serbischen Medien sollen für den Transport der SNS-Anhänger:innen Busse aus Steuermitteln finanziert worden sein. Zudem soll Staatsbediensteten mit Kündigung gedroht worden sein, wenn sie eine Teilnahme verweigerten. Doch Vučićs versuchte Inszenierung ist auch eine Verzweiflungstat: Laut Zahlen  des serbischen Umfrageinstituts CRTA unterstützen 61 Prozent der Serb:innen die Proteste, nur 35 Prozent sind dagegen. 

Die Mehrheit der Serb:innen hat genug von der Korruption im Land und dem autokratischen Gehabe der Herrschenden. Das Unglück in Novi Sad und die darauf folgenden Proteste haben in Serbien ein korruptes System demaskiert. Die Proteste sind der Ausdruck davon, dass viele Menschen im Land nicht gewillt sind, das System weiter blind zu unterstützen. Die Student:innen machen sich mit keiner der zahlreichen kleinen Oppositionsparteien gemein – aktuell ist das eine Stärke. Es ist aber zugleich auch eine Schwäche, weil keine wirkliche Alternative zum System Vučić auf dem Tisch liegt. Der Staat wurde in den vergangenen zwölf Jahren von der SNS gekapert, die Opposition unterdrückt und marginalisiert. Es gibt viele Oppositionelle, aber nicht die eine Partei, das Bündnis, die Personen, die eine realistische Alternative mit Machtanspruch darstellen.

Das System ist entlarvt, die Macht liegt auf der Strasse. Doch wird sich jemand finden, der sie aufhebt? Falls nicht, droht ein Szenario, in dem der Autokrat Aleksandar Vučić lediglich einen neuen Befehlsempfänger an die Spitze der Regierung setzt und alles unverändert weiterläuft.