«Die Jahrtausendflut»: Im Ausnahmezustand
Einlass erhält nur, wer in den Notrat gerufen wurde: Beidseits des Eingangs zum Berner Rathaus posieren hochdekorierte Weibel:innen. Der Bundesrat hat gestern um 21 Uhr per Notverordnung den Beitritt zu den «Grünhelmen» verfügt, einem internationalen Verbund für Klimaschutz und Soforthilfe. Jetzt soll eine zufällig ausgewählte Bürger:innenvertretung darüber abstimmen. Auf Bildschirmen im Flur zum Grossratssaal zeigen SRF-Nachrichten, weshalb: Überflutungen ziehen sich durch die Schweiz, in Zürich ist die Limmat über die Ufer getreten, Abwasser vermischt sich mit dem Grundwasser. Wir schreiben das Jahr 2037.
Wer bei den «Liveübertragungen» der Flutwellen noch an einen Kunstgriff denkt, den beschleicht spätestens nach dem dritten Sirenenheulen ein mulmiges Gefühl: Die Katastrophe, die hier im Preenactment «Die Jahrtausendflut» verhandelt wird, ist alles andere als abstrakt. Erarbeitet vom Theater- und Gesellschaftsprojekt Proberaum Zukunft in Zusammenarbeit mit dem Thinktank Forum Aussenpolitik, greift das interaktive Stück wissenschaftliche Szenarien auf, die drohen, falls es nicht gelingt, die Erderhitzung wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart auf unter zwei Grad zu beschränken.
Es bleibt kaum Zeit, sich einen «Notfallsnack» vom Tisch zu greifen. Schon folgt die Durchsage, man möge sich nun in den Saal begeben. Einige Volksvertreter:innen hätten es nicht bis hierher geschafft – sie seien in Kellern eingeschlossen oder nicht auffindbar; der Bundesrat funktioniere aber «noch einigermassen», lässt Daniel Koch zur Eröffnung des Stücks verlauten. Der aus der Zeit des Coronalockdowns bekannte ehemalige Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim BAG mimt den Bundesratssprecher in gewohnt lakonischer Manier. Ein Expert:innenrat aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Theater erläutert die Lage: Die Schweiz sei auf internationale Hilfe angewiesen. Der Beitritt zu den «Grünhelmen» müsse unverzüglich beschlossen werden – mit einem einfachen Mehr der Noträt:innen, also des Publikums.
Nun erhalten die rund 200 Anwesenden das Wort. Ganz im Sinne einer parlamentarischen Debatte werden die Wortmeldungen auf Zettel geschrieben. Die Diskussion nimmt rasch an Schärfe zu. Der energische Herr Bär etwa, mit dem Helikopter eingeflogen aus dem Glarnerland, warnt davor, «die Katze im Sack» zu kaufen, und rät dazu, sich zu enthalten. Eine Videoübertragung unterbricht die Sitzung: Ein börsenkotiertes Techunternehmen aus San Francisco würde gern «private» Soforthilfe leisten. Natürlich nicht kostenlos.
Solche überzeichneten Wendungen machen es deutlich: Die fiktive Diskussion über künftige Klimakatastrophenhilfe müsste längst von einer viel grundlegenderen Frage überlagert sein. Wie können wir in der Gegenwart dem kapitalistischen System entkommen, das mit seinem Wachstumszwang die planetaren Grenzen zunehmend überschreitet? Die Erkenntnis ist nicht neu, doch «Die Jahrtausendflut» lässt sie uns bedrückend «erfühlen»: Wenn wir nicht jetzt organisiert gegen Wachstum, Ausbeutung und Profitstreben ankämpfen, ist eine solidarische Klimazukunft nicht wirklich vorstellbar – nicht einmal im Theater.
«Die Jahrtausendflut», im Rathaus Bern. Weitere Spieldaten: Di, 29. April, Mi, 30. April, Mo, 5. Mai, jeweils 19 Uhr. www.buehnenbern.ch