Der Vermonter Klassenkampf
In Berlin, Vermont, haben die Schulferien bereits begonnen und dauern noch bis Ende August. Die landesweit üblichen zehn bis zwölf schulfreien Wochen im Sommer sind für die meisten Eltern in den USA ein Problem, weil sie selbst weitaus weniger oder – wie die grosse Mehrheit der Vermonter Arbeitskräfte – überhaupt keine bezahlten Freitage haben. Womöglich füllen Grosseltern und Summer Camps die Betreuungslücken, doch zweieinhalb Monate sind eine lange Zeit.
Der schulfreie Sommer ist in vielen Familien auch eine Zeit, in der das Essen knapp wird. Denn während des Schuljahrs offerieren die öffentlichen Schulen in Vermont seit der Coronapandemie allen Schüler:innen, unabhängig vom Einkommen der Eltern, kostenlose Morgen- und Mittagessen. Knapp die Hälfte der rund 80 000 Kinder sind auch im Sommer auf Nahrungsmittelbeihilfe angewiesen. Zum Glück gibt es dafür eine gut funktionierende Infrastruktur. Letztes Jahr wurden im weitläufigen US-Bundesstaat über eine Million Essenspakete zusammengestellt und verteilt. Und bereits sind die Essensabgabestellen in den Bevölkerungszentren wieder geöffnet und die gekühlten Lastwagen zu entlegenen Dörfern und Weilern unterwegs. Was nächsten Sommer passieren wird, ist ungewiss, da die Bundessubventionen für soziale Programme laufend gekürzt und gestrichen werden.
Es sind oft die gleichen Familien, die nebst Essenshilfe auch Unterstützung bei der Begleichung der Energierechnungen benötigen. Mehr als ein Fünftel aller Haushalte zählen im langen, kalten Vermonter Winter auf einen Zuschuss für ihre hohen Heizkosten. Der US-Bundesstaat Vermont erhielt von der Zentralregierung bisher etwa 20 Millionen Dollar jährlich für diese lebenswichtige Energiehilfe, durchschnittlich 770 Dollar pro betroffenen Haushalt. Jetzt hat Präsident Trump das «unnötige» Programm gestrichen. Die Einsparung im US-Budget ist lächerlich klein. Ein Jahr Vermonter Energiebeihilfe kostete die USA nicht mal halb so viel wie die vierzehn Buster-Bomben, die im Iran abgeworfen wurden. Der Verlust für die 23 000 einkommensschwachen Haushalte in Vermont hingegen ist verheerend. Diese Vermonter:innen sorgen sich jetzt schon, mitten im Sommer, wie sie den nächsten Winter überstehen werden.
Im nationalen Vergleich ist Vermont, die Heimat des Demokratischen Sozialisten Bernie Sanders, sozial gut aufgestellt: hoher Mindestlohn, gewerkschaftsfreundliche Gesetzgebung, stark progressiver Steuersatz, gute Schulen und gute Gesundheitsversorgung, solide Sozialhilfeprogramme. Doch auch hier sind die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden. Präsident Trump und der von ihm dominierte US-Kongress beschleunigen und radikalisieren den Prozess. Mir Schweizerin kommt der Überlebenskampf dieser Klasse, die sich selbst meist «middle class» nennt, bereits ziemlich prekär vor.
«Zu welcher Klasse gehören Sie?», fragte die Lokaljournalistin Erica Heilmann die Leute im Northeast Kingdom, der nordöstlichsten und ärmsten Region Vermonts, kürzlich für eine mehrteilige Audioreportage. Die Antworten waren aufschlussreich. Die etwas gebildeteren und besser gestellten Befragten lehnten den «erniedrigenden» Begriff Klasse rundweg ab oder weichten ihn auf, sprachen über Kultur und Komplexität und wollten sich selbst nicht festlegen.
Die Angehörigen der Arbeiter:innenklasse hatten mit dem Label weniger Mühe. Kytreana Patrick zum Beispiel, die vollzeitlich in einem Dorfladen nahe der kanadischen Grenze arbeitet und trotzdem auf Sozialhilfe in Form von Lebensmittelmarken angewiesen ist, sagte: «Ich gehöre zur Arbeiter:innenklasse. Ich habe es noch nie geschafft, Freundinnen oder Freunde zu gewinnen, die einen höheren Status haben als ich selbst. Es gibt diese Schranke … Ich bin in eine Familie geboren worden, die weiss, dass sie nicht reich ist und dass wir es wahrscheinlich nie nach ganz oben schaffen werden. Wir sind da, um sicherzustellen, dass die Reichen bekommen, was sie wollen. Dass sie jederzeit bei McDonald’s essen können. Wir sind hauptsächlich da, um das Ganze am Laufen zu halten.»
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.