US-Wahlen 2020: Bernie hat gewonnen

Nr. 16 –

Der nächste Präsident der USA heisst nicht Bernie Sanders. Aber seine Ideen stehen durchaus noch zur Wahl.

Popularisator von linkem Gedankengut: Bernie Sanders Ende Februar in Springfield, Virginia. Foto: Sarah Silbiger, Getty

«Meine Kampagne ist zu Ende. Doch der Kampf um Gerechtigkeit geht weiter.» Schnörkellos wie immer gab Bernie Sanders kurz vor Ostern sein Ausscheiden als Präsidentschaftskandidat bekannt. Das nächste wichtige Gefecht für die Linke in den USA sei die Abwahl «des gefährlichsten Präsidenten in der Geschichte der USA» im November 2020. Über Joe Biden, den voraussichtlichen demokratischen Herausforderer, sagte Sanders, er sei ein anständiger Mensch und ein guter Politiker, mit dem man zusammenarbeiten könne.

Am Ostermontag dann hat der sozialistische Senator aus Vermont die Unterstützung der Kandidatur seines ehemaligen Rivalen auch offiziell und mit warmen Worten bekannt gegeben. Die ungleichen alten Männer wollen die Gemeinsamkeiten und Differenzen zu Themen wie Wirtschaft, Immigration, Strafreform, Klimakrise und Gesundheitsvorsorge in gemeinsamen Arbeitsgruppen ausdiskutieren. Joe Biden versprach seinem Gegner und langjährigen Freund, die «progressivste Regierung seit Franklin Roosevelt» aufzubauen.

Ideen für die Zukunft

Bernie Sanders’ Entscheidung, an diesem Punkt der US-Präsidentenwahl 2020 den führenden Demokraten zu unterstützen, ist die konsequente Fortführung einer Doppelstrategie, die der eigenwillige Politiker in den letzten fünfzig Jahren mit einigem Erfolg betrieben hat: In seinem hartnäckigen Kampf für Gerechtigkeit marschierte er, wo immer möglich, durch die demokratischen Institutionen. Und gleichzeitig arbeitete er stets mit einer politischen Basis, mit Bewegungen zusammen, die seinen Kampf weiterführen und radikalisieren können.

Sanders’ Slogan für die Präsidentschaftswahlen 2020 war typisch Bernie: «Not me. Us.» Dieses «Wir» bestand nicht zuletzt aus rund zehn Millionen Wahlspenden im Wert von durchschnittlich 18,50 US-Dollar. Sanders’ Kampagne wurde nicht wie der Grossteil der US-Politik von den Reichen und Mächtigen des Landes finanziert.

Nach dem Rückzug seiner Kandidatur versuchte der 78-jährige Politiker, seiner enttäuschten jungen Basis Mut zuzusprechen: «Wir sind dabei, den ideologischen Kampf zu gewinnen. (…) Die Zukunft gehört unseren Ideen.» Das sind keine leeren Trostworte. Die politische Debatte in den USA hat sich tatsächlich verändert. Forderungen wie existenzsichernde Löhne, eine Gesundheitsvorsorge für die ganze Bevölkerung, freier Zugang zu Bildung und eine griffige Umweltpolitik galten vor einigen Jahren noch als linksextrem und verstiegen, als unrealistisch und chancenlos. Doch Bernie Sanders ist besonders mit seinen beiden Präsidentschaftskampagnen zum Katalysator von linkem Gedankengut geworden.

Sanders ist ein Popularisator, der radikale politische Ideen breiter bekannt macht und basisdemokratische Bewegungen stärkt. Aber er ist kein Populist, der eigenmächtig bestimmt, wer zum Volk gehört und wer nicht und seine eigene Autorität mit der Verunglimpfung vermeintlicher Volksfeinde zu sichern sucht. Dieser Unterschied ist wichtig, wird aber oft unterschlagen. Präsidentschaftskandidat Sanders konnte eine Mehrheit der unter 45-Jährigen überzeugen. Nicht aber die ältere Generation, die auch diesmal auf das Bekannte setzte, selbst wenn sich dieses offensichtlich nicht bewährt hat.

Die Not in der Not

Die bekannte Globalisierungskritikerin Naomi Klein, die zurzeit in den USA lebt und lehrt, erklärt den politischen Altersgraben so: Die jüngere Generation glaube wirklich daran, dass es ein Menschenrecht sei, in einer Welt ohne Armut, Rassismus, Sexismus, Fremdenhass und religiösen Fanatismus zu leben, in einer sauberen Welt ohne Klimazerstörung. Aus dieser tiefen Überzeugung heraus kämpften jüngere Menschen für umfassende Gerechtigkeit. Diese politische Vision beflügle die ältere Wählerschaft nicht im gleichen Mass.

Die bisherigen Resultate der Vorwahlen 2020 bestätigen, dass Bernie Sanders es zwar geschafft hat, den Marktfundamentalismus zu entzaubern, der linke Ideen pauschal als randständig verworfen hatte. Doch die Mehrheit der älteren DemokratInnen machte die ideologische Neuorientierung nurmehr zögerlich mit. Gerade jetzt, nach bald vier chaotischen Jahren unter Präsident Donald Trump und mitten in der bedrohlichen Coronapandemie, setzten viele StimmbürgerInnen auf das Gewohnte, auf eine einigermassen funktionierende Staatsbürokratie – so wie sie es letztmals während der Amtszeit von Präsident Barack Obama und Vizepräsident Joe Biden erlebt hatten.

Viele Sanders-Fans sind nach wie vor überzeugt, dass eine Krise wie die Coronapandemie die herrschende Ungleichheit und Ungerechtigkeit des US-amerikanischen Gesellschaftssystems blosslegen wird und die Leute deshalb empfänglicher macht für grosse Ideen und grosse politische Veränderungen.

Der erste Teil stimmt: Das Coronavirus trifft Menschen härter, die verschmutzte Luft atmen, in engen Verhältnissen wohnen, in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, in Armut und Nahrungsunsicherheit leben. PatientInnen ohne Krankenversicherung sorgen sich in den USA bis zum letzten Atemzug um ihre Spitalrechnung. Rund siebzehn Millionen Arbeitskräfte – zehn Prozent der werktätigen Bevölkerung – haben in den letzten drei Wochen Arbeitslosengelder beantragt. Noch weit mehr Menschen, darunter nicht registrierte ImmigrantInnen, sind ohne bezahlte Arbeit. Und weil die Gesundheitsvorsorge von Lohnabhängigen samt ihren Familien in den USA an die Arbeitsstelle gebunden ist, haben Millionen von US-AmerikanerInnen ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Coronapandemie ihre Krankenversicherung verloren. Dieser Dauerstress, das ist der zweite Teil der Gleichung, verengt den Blick und bietet alles andere als ideale Bedingungen für grosse Visionen.

Vor den Schulschliessungen wurden jeden Tag rund dreissig Millionen Gratismahlzeiten an bedürftige SchülerInnen dieses reichen Landes abgegeben. Viele Bundesstaaten und Gemeinden suchen nun nach Lösungen, damit die Kinder nicht hungern müssen. Die Essensabgabestellen im ganzen Land können den neuen Andrang kaum bewältigen. Der Ausnahmezustand wegen des Coronavirus ist über ein Land hereingebrochen, das sich bereits in einem ziemlich akuten Ausnahmezustand befand. Ein Ausnahmezustand, den Bernie Sanders seit langem deutlich benannt hat.

Der neue New Deal

Regierung und Staat – nicht nur in den USA – spielen heute aufgrund der Coronakrise eine grössere, finanziell und ordnungspolitisch aktivere Rolle als je seit Beginn des Neoliberalismus. Diese Entwicklung kann Richtung Diktatur gehen. Wie im Fall Viktor Orban, der sich Ende März per Dekret zum Alleinherrscher Ungarns erklärt hat. Wie bei Donald Trump, der sich immer dreister Regierungsgewalt anmasst und jede demokratische Kontrolle zurückweist.

In den USA böten die bereits beschlossenen und die zu erwartenden «Konjunkturpakete» in Billionenhöhe allerdings auch die Möglichkeit, das Land anders und besser wiederaufzubauen, so wie das Franklin Roosevelt nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre mit seinem New Deal angestrebt hat.

Schon vor der Coronakrise hat die Sanders-Kampagne dargelegt, wie zeitgemässe linke Wirtschafts- und Sozialreformen aussehen müssten, die auch die Umwelt und die internationalen Beziehungen im Blick haben. Nun wird Bernie nicht der Präsident sein, der seine fortschrittlichen Ideen in die Tat umsetzen kann. Doch er hat massgeblich dazu beigetragen, dass sie mehrheitsfähig wurden. Und zwar so eindeutig, dass sich selbst der politisch gemässigte, jedoch äusserst wetterfühlige Joe Biden mit dem demokratischen Sozialismus auseinandersetzen muss.

Eines der vermutlich ersten Bernie-Sanders-Porträts in deutscher Sprache ist übrigens bereits 2012 in der WOZ erschienen. «Wie macht das ‹unser Bernie› nur?» von Lotta Suter ist im WOZ-Archiv auf woz.ch zu finden.